Estnisch ist ein bisschen exotisch. Das beginnt schon damit, dass häufiger Unsicherheit darüber besteht, wie die Sprache eigentlich heißt. Also: Sie heißt „Estnisch“ und nicht Estisch, das klingt ja auch irgendwie nach Esstisch. Im Folgenden wollen wir euch mal vorstellen, was es mit der estnischen Sprache genau auf sich hat.
Die Verwandten der estnischen Sprache
Auch über die Verwandtschaft des Estnischen mit benachbarten (und nicht so benachbarten) Sprachen gibt es immer mal irrige Annahmen. Um auch hier Klarheit zu schaffen: Estnisch ist vor allem mit Finnisch verwandt, jedenfalls ist Finnisch die einzige bekanntere, größere Sprache, mit der Estnisch verwandt ist. Die übrigen Sprachen der Finnougrischen Sprachfamilie, denn zu dieser gehört Estnisch, sind entweder sehr klein oder die Verwandtschaft ist allzu fern. Das gilt zum Beispiel für Ungarisch.
Forscher streiten sich bis heute über die genauen Zusammenhänge, aber das ändert nichts an der folgenden Tatsache: Selbst wenn man Estnisch beherrscht, versteht man kein bisschen Ungarisch. Das ist beim Finnischen anders. Mit etwas Übung lassen sich viele Wörter wiedererkennen und bestimmte grammatische Strukturen sind ähnlich. Finnen und Esten können sich aber keineswegs so unterhalten wie etwa Schweden und Norweger.
Zu den anderen Nachbarsprachen bestehen keine direkten Verwandtschaften, also weder mit dem Russischen und den anderen slawischen Sprachen noch mit dem Lettischen oder Litauischen. Sprachgeschichtlich sind damit Deutsch, Litauisch, Russisch oder Persisch allesamt enger miteinander verwandt als alle diese Sprachen mit Estnisch. Die Esten sind ganz schön allein mit ihrer Sprache mit gerade mal einer Million Sprecher!
Die Esten und die Fremdsprachen
Deshalb ist das Beherrschen oft mehrerer Fremdsprachen auf gutem Niveau in Estland sehr verbreitet. Englisch ist mit Abstand die wichtigste Fremdsprache. Einen Sonderfall bildet Russisch: Zum einen sprechen die Angehörigen der russischen Minderheit Russisch, zum anderen beherrschen viele ältere Esten Russisch auf sehr hohem Niveau. In der jüngeren Generation haben die Russischkenntnisse allerdings sehr schnell abgenommen – wohl nicht zuletzt deshalb, weil Russisch so eng mit der sowjetischen Besatzung und Russifizierung in der Sowjetzeit verbunden ist. Beim Fremdsprachenlernen hilft vermutlich auch, dass nur Kinderfilme synchronisiert werden. Kinofilme werden oft mit estnischen und russischen Untertiteln gleichzeitig gezeigt. In den Fernsehnachrichten kann man – anders als etwa in Deutschland – Politiker aus dem Ausland immer in der Originalsprache hören, auch hier werden Untertitel verwendet.
Crashkurs Estnisch
Jetzt aber zur estnischen Sprache selbst. Hier die wichtigsten Dinge, um mit Estnisch etwas besser klar zu kommen.
Immer die erste Silbe betonen
So schwer es auch fällt: Estnisch wird wirklich fast immer auf der ersten Silbe betont. Es heißt also Tállinn, nicht Tallínn und Sááremaa, nicht Saarémaa!
Doppelte Buchstaben sind immer lang
Und zwar auch Konsonanten! Bei Tallinn (an die Betonung auf der ersten Silbe denken!) bleibt man bei den „l“ und „n“ also kurz hängen – etwas übertrieben: Tál-lin-n.
Die 14 Fälle
Vielleicht habt ihr schon von den vielen grammatischen Fällen im Estnischen gehört. Was hat es damit auf sich? Die ersten drei sind ähnlich wie in romanischen und germanischen Sprachen (ok, ehrlich gesagt, in vieler Hinsicht auch nicht). Die anderen funktionieren in etwa so wie in anderen Sprachen die Präpositionen, also „mit“, „in“, „aus“ und so weiter.
„Tisch“ heißt zum Beispiel auf Estnisch „laud“. 2. Fall: „laua“. Davon leiten sind dann Nummer 4-14 ab: „lauale“ – „auf den Tisch“; „laualt“ – „vom Tisch“; „lauaga“ – „mit dem Tisch“, „lauata“ – „ohne Tisch“. Entsprechend kann man mit solchen Fällen sagen, dass man „als“ jemand arbeitet, etwas irgendwo „hinein“legt oder auch „zu etwas wird“. „In Berlin“ heißt dann auf estnisch: „Berliinis“ (das „i“ ist lang, also muss es doppelt sein).
No sex, no future!
So lautet ein beliebter Spruch unter Estnischlernenden: Das Estnische kennt weder grammatisches Geschlecht noch eine eigene Verbform für die Zukunft. Das kann Übersetzer vor Herausforderungen stellen. Die Sätze
Er liebt sie.
Sie liebt ihn.
Er liebt ihn.
Sie liebt sie.
werden alle gleich übersetzt: Ta armastab teda.
õ
Estnisch hat einen eigenen Buchstaben, das „õ“ – ziemlich cool, oder? Ein normales „ö“ gibt es auch noch, das „õ“ klingt ungefähr so wie der Laut, den ihr von euch gebt, wenn ihr gerade absolut keinen Plan habt.
Estnisch lernen
Ihr wollt Estnisch lernen? Ganz einfach ist das nicht. Immerhin gehört die Sprache laut dem amerikanischen Foreign Service Institute zur zweitschwierigsten Gruppe von Sprachen – danach kommen nur noch Sprachen wie Arabisch, Japanisch und Chinesisch. Außerdem gibt es wenig Material, weil die Zahl der Sprecher so klein ist. Hier einige Tipps.
Esten in der Nähe
Immerhin gibt es nach einem vielzitierten Wort von Ernest Hemingway „in jedem Hafen einen Esten“. Vielleicht findet ihr ja auch einen Muttersprachler, der euch Unterricht geben kann.
Die App Speakly
Die Sprachlern-App Speakly hat, im Gegensatz zu den meisten anderen Apps, auch Estnisch im Angebot.
Bücher
Auch an Selbstlernmaterialien gibt es zu Estnisch nicht sehr viel. Für viele bietet der „Kauderwelsch Estnisch“ einen ersten Einstieg.
- Grönholm, Irja (Autor)
Ein empfehlenswertes englischsprachiges Buch zum Selbststudium ist nach wie vor das „Estonian Textbook“ von Juhan Tuldava – alt und klassisch aufgemacht, aber sehr gut! Mittlerweile bieten aber auch einige estnische und deutsche Verlage Materialien an.
Sommerschule
Wenn ihr wirklich intensiv lernen wollt, sind die Sommerkurse der Universitäten in Tallinn und Tartu die wohl beste Option für einen tieferen, schnellen Einstieg. Nebenbei lernt ihr viel über Land und Leute und verbringt Zeit mit Estland-Fans aus aller Welt.
Spaß mit Estnisch
Die estnische Sprache kann ziemlich verrückt sein! Hier eine Auswahl von besonderen Wörtern:
- Öötöö: Öö heißt Nacht, töö Arbeit: zusammen Nachtarbeit! Eine bekannte Band heißt Jäääär (das man aber eigentlich mit Bindestrich schreiben müsste: jää-äär = Eisrand).
- Asjaajaja: Noch ein Klassiker, der Sachbearbeiter (aus asi = Sache und ajama = betreiben).
- Ao / Oa: Hier geht es weder um das A&O noch um eine Typenbezeichnung Null-A, sondern um Straßennamen. Die stehen immer im Genitiv und dann wird aus agu (Morgendämmerung) ao und aus uba (Bohne) oa.
- Olümpia: Die Esten sind sehr konsequent darin, die estnische Rechtschreibung anzuwenden. Also schreiben sie Olympia mit ü und die Formel 1 mit v: Vormel 1.
- Näoraamat: Aber die Esten bleiben nicht bei der Rechtschreibung stehen, sie übersetzen auch einfach alles. Aus Facebook wird Näoraamat (estn. für Gesichtsbuch), aus Laptop sülekas (etwa: „Schoßie“) und aus Hot dog välevorst („Blitzwurst“).
- Terviseks: Nicht was ihr denkt … das heißt einfach Prost!
Jetzt habt ihr genug Estnisch gelernt, um Euch an einen ganzen Satz zu wagen (auch der gehört zum Standardrepertoire der Estnischlernenden):
„Anna õlu üle Ülo õe õla!“: „Reiche das Bier über die Schulter von Ülos Schwester!“
Ganz einfach, oder?
Ihr habt schon Kontakt zur estnischen Sprache gehabt oder wollt jetzt Estnisch lernen? Schreibt uns gerne einen Kommentar über eure Erfahrungen mit der estnischen Sprache.
Ihr seid neugierig geworden und wollte Estland genauer kennenlernen? Dann holt euch jetzt den Reiseführer „Baltikum“, den ich zusammen mit anderen Experten im Reise Know-How Verlag veröffentlicht habe. Hier findet ihr nicht nur viele Infos zu eurem Estland-Urlaub, sondern auch zu Litauen und Lettland.
- Altheide, Thorsten (Autor)
Ich empfehle zusätzlich zu Speakly, was wirklich gut ist – wird ja auch von EstInnen aus Tallinn betrieben – noch die beiden Lehrbücher ‚Tervist‘ Bd.1und 2. Dazu die Grammatik von Cornelius Hasselblad und die beiden Wörterbücher von Berthold Forssmann (das dicke ‚Estnisch-Deutsch‘ und das dünne Deutsch-Estnisch und Estnisch-Deutsch). Damit kann man dann ganz gut lernen. ?
Danke, Anne. Ja, absolut. Von Hasselblatt gibt es (ebenfalls bei Harrassowitz) auch noch das „Estnisch Lehrbuch“, das ebenfalls sehr empfehlenswert ist, allerdings weniger zum ersten Einstieg.
Vielen Dank für den ersten Eindruck ganz lehrreich, zu erfahren dass Estnisch fast so schwer wie Arabisch oder Japanisch, Chinesisch und vieles mehr sein soll. Was mir auffällt, ist die Kunst Verlaufsform und abgeschlossene Handlung zu unterscheiden, die im Englischen wohl jedem bekannt sein sollten, neben der richtigen Anwendung der beiden Infinitive in Verbindung mit den meisten Verben außer einer Hand voll.
Ich lerne zur Zeit über das KEELETEE-Programm, weil es so schön verführerisch ist, per Mausklick den Google-Übersetzer mit einigen Browsern hinzuzuziehen, sofern es im Lehrpfad nicht ausreicht, um aus der von Lehrkräften erarbeiteten, englischen Fassung Rückschlüsse auf die estnisch logische Satzkonstruktion ziehen zu können oder typische Redewendungen auf Anhieb zu verstehen. Vielleicht schaffe ich es noch, Radiosendung verfolgen zu können, ohne längere Emigration, die mit zunehmendem Alter schwierig ist.
Mir fallen die Germanische Sprachen leichter, selbst Französisch oder Italienisch und Russisch ( 1/2 Jahr freiwillig beim Bund gelernt) direkt nach der Schulzeit. Der Reiz den Estnisch ausmacht ist der dem Finnischen sehr ähnliche Klang für jemanden, der eine Zeit Lang in Skandinavien (M,S,DK) groß geworden ist, aber kein Finnisch spricht. Es fehlt einfach die Praxis.
Die Untiefen der estnischen Grammatik können wirklich tückisch sein, insbesondere die von Ihnen angesprochene, ungewohnte Rolle der Fälle (Kaufe ich ein ganzes Brot? Bin ich gerade dabei, ein Brot zu kaufen?). Danke für den Hinweis auf Keeletee!