Multikulturelles Rumänien – Besser doppelt hinschauen!

Rumänien ist ein multikulturelles Land. Die Vielfalt zeigt sich nicht nur an den Bewohnern, sondern auch an der Architektur und dem Sprachenmix des Landes.

Inhaltsverzeichnis

Nationen-Images sind grobe Abstempelungen eines Staatsvolks. Sie sind subjektiv, stark verkürzt, extrem vereinfacht, verzerrt und pauschal. Mit einem Wort: falsch! In einer Studie zum Image Rumäniens in Deutschland kommt genau diese fatale Sichtweise zum Ausdruck: Das Land sei zwar politisch stabil, es sei ein schönes Urlaubsland und könne auf bedeutende Kulturdenkmäler verweisen, lasse aber in den Kategorien Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft stark zu wünschen übrig.

Helga Schlimme, eine profunde Landeskennerin, titelte schon vor 20 Jahren: „Unbekanntes Rumänien. Führt Unkenntnis zur Ablehnung?“. Genau das ist der Punkt: Je weniger ein Land bekannt ist, desto bedenkenloser werden ihm und seinen Bewohnern Kennzeichen und Merkmale zugeschrieben. Aber wieso ist gerade Rumänien ein Paradebeispiel für abwertende Zuschreibungen und Stereotype?
Das sozialistische Land und seine Bewohner waren nach dem Zweiten Weltkrieg 45 Jahre lang von seinen westeuropäischen Nachbarländern abgeriegelt.

Kapitolinische Wölfin in Cluj

Unter dem Diktator Ceauşescu (1918-1989), der sich gerne als Genie der Karpaten anreden ließ, ging die Image-Spirale gerade in seinen letzten Jahren rasant abwärts. Mit dem Zusammenbruch des Landes kam die Öffnung nach Europa, gekoppelt mit einer vernichtenden Bilanz zu Wirtschaft und Gesellschaft: Auf den ersten Blick war alles marode, korrupt und überholt – ideale Voraussetzungen für grassierende Stereotype und Vorurteile. Erst der zweite Blick auf dieses Land und die Menschen, die in ihm leben, kann und muss hier wieder zurechtrücken, was durch Unkenntnis und vorschnelles Urteil verbogen und verfälscht wurde.

Wie Rumänien zu seinem heutigen Territorium kam

Der Blick über räumliche und zeitliche Distanzen kann in besonderer Weise dazu beitragen, die verbreitete Unkenntnis abzubauen. Rumänien ist nämlich in seinen heutigen Grenzen ein vergleichsweise junger Staat. Der Name Rumänien (România) deutet zwar an, dass seine Wurzeln bis ins Römische Reich (Imperium Romanum) zurückreichen, doch die Römer waren nur im 2. und 3. Jh. n. Chr. hier präsent.
Das heutige Staatsgebiet bildete sich in mehreren Schritten ab dem 11. Jh. heraus:

  • Das Gebiet diesseits der Karpaten, nämlich Siebenbürgen und angrenzende Räume, gehörte – abgesehen von einem osmanischen Intermezzo (1658-1711) – bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zu Ungarn bzw. Österreich-Ungarn.
  • Der Raum jenseits der Karpaten, die sogenannte Moldau, die Walachei (zwischen Südkarpaten und Donau) sowie die Dobrudscha (am Schwarzen Meer) hatten im 18. Jh. den Status eines osmanischen Vasallen, 1812 wurden sie russisches Protektorat.
  • 1866 entstand aus diesen drei Teilen – Moldau, Walachei, Dobrudscha – der erste (kleine) rumänische Staat, der ab 1881 eine Monarchie war.
  • Nach dem Ersten Weltkrieg – Rumänien stand auf der Seite der Siegermächte – wurde das Land territorial belohnt: das zuvor ungarische Gebiet westlich des Karpatenbogens kam hinzu, ebenso ein Teil des Banats im Westen sowie Bessarabien im Osten. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war das Land so groß wie nie zuvor.
  • Aber bereits im Zweiten Weltkrieg kam es zu deutlichen Verlusten: Die nördliche Bukowina (um Tschernowitz) und Bessarabien (zwischen Pruth und Dnestr) fielen an die Sowjetunion, Teile des nördlichen Siebenbürgens kamen zurück an Ungarn.
  • 1944 legte Stalin neue Grenzen fest: Die von Ungarn annektierten Gebiete wurden erneut rumänisch, während Bessarabien und die nördliche Bukowina den Sowjetrepubliken Moldawien bzw. der Ukraïne zugeschlagen wurden. Die damals festgelegten rumänischen Außengrenzen gelten bis heute.

Der häufige Wechsel der staatlichen Zugehörigkeit ist also prägend für Rumänien. Es sind nicht nur osmanische, russische, ungarische Einflüsse, die sich in diesem südosteuropäischen Land überlagern. Sprachlich, religiös oder kulturell sind derartige Interferenzen an vielen Stellen zu erkennen, sie sind für das Land manchmal ein Problem, in jedem Fall aber kennzeichnend. Für Mitteleuropäer sind diese Spezifika jedoch erst auf den zweiten Blick sichtbar, weil das Land im Schatten der internationalen Aufmerksamkeit liegt.

Ethnische Vielfalt Rumäniens

Mit dem im 19. Jh. aufkommenden Nationalismus verschieben sich die Gewichte, machen sich neue Perspektiven breit. Nationalstaaten sind das geistige Konstrukt dieser Zeit. In einem polyethnischen Land wie Rumänien aber zeichnen sich neue Probleme ab. Wie soll denn ein Nationalstaat in einem Land mit über 20 Minderheiten aussehen? Kann die Jahrhunderte alte ethnische Vielfalt erhalten bleiben? Heute rangieren die Rumänen (89%) klar vor den Ungarn (7%). Roma (3,3%), Ukraïner (0,3%), Deutsche (0,2%), Türken (0,1%), Russen (0,1%) und Tataren (0,1%) spielen kaum eine Rolle. Andere Ethnien wie Serben, Slowaken, Bulgaren, Griechen, Armenier, Albaner, Tschechen oder Polen sind zahlenmäßig noch geringer vertreten.

Statue von Mircea dem Älteren

Doch zwei Einwände lassen die Argumente der Zahlen ins Wanken geraten. So sind zum einen die Prozentwerte über das ganze Land gerechnet. Mit der regionalen Brille hat man dagegen eine völlig andere Perspektive. Die Tataren zum Beispiel wohnen gehäuft in der Dobrudscha und sind hier in verschiedenen Dörfern die dominante Ethnie. Die Lipowaner, eine kleine Gruppe russischer Altgläubiger, leben im Donaudelta in Dörfern wie Murighiol, wo sie durch ihre blau gestrichenen Häuser und Umzäunungen stärker auffallen als ihr Anteil (4,5%) vermuten lässt.

Zum anderen wurden durch die systematische Rumänisierung seit den 1920er Jahren, die im Sozialismus mit der Industrialisierung und Kollektivierung der Landwirtschaft einherging, die nicht-rumänischen Ethnien Schritt für Schritt zurückgedrängt. Für die Deutschen in Siebenbürgen und im Banat gab es zwar die Alternative der Auswanderung ins Land ihrer Vorfahren. Gerade die ungarische Bevölkerung fühlte sich aber oft herabgesetzt und im Symbolstreit unterbewertet.

Burg Hunedoara
Die Burg von Hunedoara ziert viele Rumänien-Reiseführer. Der ungarische König Matthias Corvinus bewohnte sie einst. (Foto: Peter Althaus)

Es sind gerade die Denkmäler, die symbolischen Orte, mit denen die Ethnien – oft mit einem Ausrufezeichen – ihre Perspektive, ihre Deutungshoheit und die beanspruchte eigene Überlegenheit zum Ausdruck bringen. So stehen die zahlreichen Denkmäler mit Stefan dem Großen und Heiligen (1433-1504) für die Siege der Rumänen über die Osmanen; zugleich sollen sie eine Warnung an die Ungarn sein, die mit Matthias Corvinus (1443-1490) oder Sándor Petőfi (1823-1849) allerdings Gegenfiguren vorweisen können.

An anderer Stelle überwinden Denkmäler die Symbolik des Gegensatzes und mahnen über die ethnischen Grenzen hinweg. Die großen Fußabdrücke im Zentrum von Cluj/Klausenburg erinnern an die von der Geheimpolizei Securitate 1989 erschossenen protestierenden Studenten: rumänische und ungarische Namen stehen nebeneinander.

Mehrsprachigkeit Rumäniens – Rumänisch, Ungarisch, Deutsch und noch mehr

Andere Ausdrucksformen der ethnischen Vielfalt sind die mehrsprachigen Ortsnamen. Die westrumänische Großstadt Oradea heißt deutsch Großwardein, ungarisch Nagyvárad und slowakisch Vel’ký Varadín. Satu Mare, im Nordwesten gelegen, trägt den ungarischen Namen Szatmárnémeti und den deutschen Sathmar. Andere Beispiele verlängern die Liste: Tîrgu Mureş (dt. Neumarkt am Mieresch, ung. Marosvásárhely), Bistriţa (dt. Bistritz, ung. Beszterce), Hunedoara (dt. Eisenmarkt, ung. Vajdahunyad), Braşov (dt. Kronstadt, ung. Brassó), Sibiu (dt. Hermannstadt, ung. Nagyszeben), Miercurea Ciuc (dt. Szeklerburg, ung. Csíkszereda), Timişoara (dt. Temeswar, ung. Temesvár, bosn./kroat./serb. Темишвар/Temišvar) oder – ein Sonderfall – Gherla (dt. Armenierstadt, ung. Szamosújvár, armen. Hayakaghak). Eine derartige Namensvielfalt (auch ohne die nochmals anderen jiddischen Bezeichnungen) ist je nach örtlichen Verhältnissen gerade in den Ländern Südosteuropas weit verbreitet.

Einkäufer auf einem Markt in Suceava

Die Mehrsprachigkeit ist ein Kennzeichen der kulturellen Vielfalt. Auf den Märkten, in Cafés und Geschäften wechselt das Personal je nach Kundschaft die Sprache. Sportvereine änderten je nach staatlicher Zugehörigkeit, politischen Vorgaben oder Wünschen von Großsponsoren den Namen; der Fußballverein CFR Cluj (Klausenburg) erlebte beispielsweise seit seiner Gründung 1907 bereits zehnmal eine Namensänderung. Im Training und beim Spiel spricht dagegen jeder so, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.

In wieder andere Richtung können Straßennamen weisen. Durch das historische Zentrum der Landeshauptstadt Bukarest verläuft die Strada Lipscani, die Leipziger Straße, eine belebte Einkaufs- und Szene-/Kneipenstraße. Der Name verweist auf alte Kontakte des Fernhandels, der Güter aus dem Orient in den Okzident brachte und umgekehrt. Hierzu passt sehr gut eine nahe gelegene ehemalige Karawanserei (Hanul Manuc), die heutzutage als Gaststätte geführt wird und für viele Stadttouristen ein Muss ist. Auch andere Städte der Walachei wie Craiova in Oltenien oder Ploieşti (ploˈjeʃtʲ) am Rand der Südkarpaten haben ihre Leipziger Straße – natürlich mit dem gleichen gewerblichen Hintergrund. Der Straßenname galt und gilt als Aushängeschild, so dass auch ganze Stadtviertel die Bezeichnung Lipscani führen.

Jede Kultur mit ihrem eigenen Baustil

Bei den Baustilen ist das anders. Hier unterscheiden sich die Traditionen der einzelnen nationalen Schulen erheblich. Im ehemals ungarischen Siebenbürgen und im Banat sind Gebäude, die im Jugend- oder Sezessionsstil errichtet wurden, verbreitet. Mit der Eingliederung nach Rumänien (1919) war die Regierung in Bukarest bemüht, die neuen Amtsgebäude in rumänischer Bautradition zu errichten. Heute hat sich längst eine uniforme, länderübergreifende Architektur in den Geschäfts- und Wohnvierteln durchgesetzt. Dieser Prozess wurde im Sozialismus durch die Industrialisierung des Wohnbaus (Plattenbauten) und die Konzentration auf größere Städte besonders begünstigt. Die bauliche Vielfalt früherer Jahrzehnte verschwand und wurde auch durch postmodernes Anknüpfen an Bauhaus-Traditionen nicht wiederbelebt.

In eine ganz andere Richtung entwickelten sich dagegen die Wohnhäuser der Roma. Große Paläste bauen sich diejenigen, die im Handel erfolgreich sind und zumeist im Ausland Geschäfte machen. Ihre Häuser gleichen bombastischen Wohnanlagen, die für ganze Familienverbände Platz bieten. Am anderen Ende der Skala befinden sich die ärmsten der Armen. Sie leben in provisorischen Hütten auf Müllhalden, ohne Eigentumstitel, von wiederholten Räumungen bedroht und ohne Perspektiven. Am östlichen Stadtrand von Cluj befindet sich ein derartiges Ghetto, das von den Bewohnern den Namen Dallas bekam.

Orthodoxe Kirche in Fagarasch

Religiöse Vielfalt Rumäniens

Religiöse und ethnische Zugehörigkeit galten im Osmanischen Reich als identisch. Noch heute ist es so, dass die Rumänen ganz überwiegend (87%) der orthodoxen Ostkirche angehören, während Ungarn und Deutsche als Katholiken oder Protestanten Mitglieder der Westkirchen sind. In der Dobrudscha, am Schwarzen Meer, gibt es verbreitet muslimische Gemeinden, die mit ihren spitz in den Himmel ragenden Minaretten schon von weitem auf sich aufmerksam machen.

Die rumänisch-orthodoxen Kirchen fallen durch ihre oft beherrschenden Kuppelbauten auf. Die kleinen griechisch-orthodoxen Gemeinden (z. B. in Braşov/Kronstadt oder Galaţi) müssen sich in der Regel mit unauffälligen Gebäuden begnügen. Armenische Kirchen hingegen gibt es nur vereinzelt. Sie stehen in Orten, in denen sich in osmanischer Zeit armenische Fernhändler niedergelassen hatten, z. B. in Iaşi oder Constanţa, besonders aber in Gherla und Dumbrăveni, beide in Siebenbürgen. Von diesen setzen sich die Westkirchen durch ihre hohen Türme deutlich ab.

Generell gilt, dass Kirchen neben geistlichen auch weltliche Ansprüche geltend machen. Der Platz im Zentrum, möglichst noch in erhabener Position, ist daher von der ältesten und meistens dominierenden Glaubensrichtung besetzt. Die anderen Kirchen müssen sich mit Plätzen zweiter oder dritter Wahl begnügen.

Die Synagoge von Sighosoara überstand den Zweiten Weltkrieg. (Foto: Peter Althaus)

Für Synagogen kam hier ein Platz erster Wahl nie in Frage. In faschistischer Zeit wurden die Juden auch in Rumänien verfolgt und in transnistrischen KZs umgebracht, die Synagogen wurden vielfach zerstört – besonders betroffen war Iaşi an der Grenze zu Moldawien mit zuvor über 100 Gebetshäusern. Heute erinnert eine Stele vor der alten Synagoge an die blutigen Pogrome. Die Geschichte der Vielfalt ist leider auch eine Geschichte der nicht gewollten, der ausgelöschten Vielfalt.

Rumänien – Europäisch im besten Sinn

Die Bilanz drängt sich auf den zweiten Blick förmlich auf: Rumänien hat eine lange multikulturelle Tradition. Sie ist mit den territorialen Verhältnissen der Zeit vor den Nationalstaaten zu erklären, als das Osmanische Reich, Österreich-Ungarn und Russland sich diesen Raum teilten. Kulturelle und religiöse Vielfalt gehen mit der ethnischen parallel – nicht immer aber ist das Zusammenleben einfach, Phasen des Mit-, Neben- und Gegeneinanders wechseln sich ab. Das gilt in Rumänien genauso wie in den anderen Ländern Europas und der Welt. Die gelebte Vielfalt mit ihrer langen Tradition ist ein Spezifikum Rumäniens und zugleich ein Vorbild für ganz Europa.

Die breite sprachliche Kompetenz vieler Rumänen – eine Folge der Vielfalt – erleichtert die Arbeitsmigration innerhalb der EU enorm. Romanischsprachige Länder wie Italien oder Spanien sind nach wie vor die Hauptziele rumänischer Arbeitsmigranten, aber auch Ungarn, Österreich oder Deutschland kommen für viele aus sprachlichen Gründen in Frage.

Genuesischer Leuchtturm in Constanta

Was macht ein genuesischer Leuchtturm in Rumänien?

Offen bleibt noch das Rätsel um den eingangs erwähnten genuesischen Leuchtturm von Constanţa, dessen Standort natürlich auf den zweiten Blick leicht zu erklären ist. Das im Spätmittelalter expandierende Osmanische Reich vergab nämlich an auswärtige Mächte Handelsprivilegien, sogenannte Kapitulationen. Venedig sicherte sich hiermit Handelsplätze entlang der albanischen und griechischen Küste bis nach Palästina. Genua verfügte über Häfen und Leuchttürme rund um das Schwarze Meer: im Westen waren dies Constanţa und nördlich davon, an der Dnestr-Mündung, Mauro Castro (ukr. Bilhorod-Dnistrowskyj), im Süden Galata, Amasra und Samsun in der heutigen Türkei sowie im Norden Sudak, Kaffa und Kertsch an der Südseite der Halbinsel Krim, die damals zum mongolischen Khanat der Goldenen Horde gehörte.

Die Verbindungen und Netzwerke waren früher anders, aber sie reichten ebenfalls weit – nicht nur von Leipzig über Bukarest bis Jerusalem. Kann ein so vielfältiges Land langweilig sein?

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Johann-Bernhard Haversath ist emeritierter Professor für Geographiedidaktik an der Universität Gießen. Er hat sich mit gegenwärtigen Transformationsprozessen beschäftigt und ist auf die Länder Südost- und Osteuropas spezialisiert.

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