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Moldawien – Geschichte eines oft vergessenen Landes

Moldawien ist in den Köpfen vieler Menschen ein weit entfernter Staat. Dabei zeigen sich hier viele Brüche des heutigen Europa wie in einem Brennglas.

Inhaltsverzeichnis

Keiner weiß, wie das Land eigentlich genau heißt: Moldau oder Moldawien? In der Eigenbezeichnung nennt es sich Moldóva, im Deutschen ist Moldau geläufig, aber mehrdeutig: Auch der Osten Rumäniens trägt nämlich diesen Namen, übernommen vom Fluss Moldau – nicht zu verwechseln mit der böhmischen Moldau, die durch Prag fließt. Schon der Name scheint also Probleme zu bereiten und Verwirrung auszulösen. Entwirren wir daher dieses Knäuel aus mitteleuropäischer Unkenntnis und zeitlichen Überlagerungen, wie es im Umfeld des russischen Angriffskriegs in der Ukraine mit einem Schlag offenkundig wird.

Moldawien gilt als ärmstes Land Europas, ist sogar noch deutlich ärmer als Albanien. Es ist nicht größer als Nordrhein-Westfalen, hat aber nur 20 Prozent der Einwohnerzahl von NRW. Doch die eigentlichen Probleme dieses Landes kommen in den Größenangaben nicht zum Ausdruck. Sie liegen vielmehr in seiner Geschichte und seiner wechselnden geostrategischen Bedeutung. Das Land liegt zwischen Rumänien und der Ukraine. Seit einem Gebietsaustausch von 2001 hat es ganz im Süden in der Kleinstadt Giurgiulești auf einer Länge von rund 300 m einen Hafen an der Donau, die als internationale Wasserstraße gilt. Damit erhielt das Binnenland über das Schwarze Meer einen Zugang zu den Weltmeeren.

Die Kathedrale der Geburt des Herrn in Chișinău (Foto: Johann-Bernhard Haversath).

Bewegte Vergangenheit Moldawiens

Moldawien hat eine sehr verwickelte Vergangenheit. Das Land trat nie aus dem Schatten seiner mächtigen, dominierenden Nachbarn heraus. Es war immer wieder Spielball großer Reiche. Im 13. Jahrhundert hatten tatarisch-mongolische Khane die Oberherrschaft, später gab Polen-Litauen den Ton an. Ab 1512 geriet das Land zwischen Prut und Dnister in den Einflussbereich des Osmanischen Reichs, nach 300 Jahren folgte das zaristische Russland.

Im 20. Jahrhundert wird es dann richtig turbulent: In kurzen Abständen wechseln die staatlichen Zuordnungen. Je zwei Mal gehörte das Land zu Rumänien oder zur Sowjetunion – mal für kurze, mal für längere Zeit. Was die ganze Sache noch komplizierter macht: Die Außengrenzen werden bei jedem Herrschaftswechsel anders abgesteckt, Kontinuität hat es in dieser Zeit nie gegeben. Den heutigen territorialen Zuschnitt setzte Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg fest.

Moldawien lag und liegt im Überschneidungsbereich der angrenzenden Mächte. Mit dem zaristischen Einfluss breitete sich ab 1812 auch die russische Sprache und die kyrillische Schrift aus, die Rumänen – sie nannten das ganze Land zwischen Prut und Dnister Bessarabien – förderten ihre Sprache und die lateinische Schrift. Der wiederholte kurzfristige Wechsel dauerte bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 an. Heute stehen beide Sprachen und Schriften gleichberechtigt nebeneinander.

Die moldawische Eigenstaatlichkeit, die seit 1991 besteht, ist keine Zeit der inneren und gesellschaftlichen Ruhe. Schon im Jahr 1991 brachen über Nacht ganze Märkte weg: So versorgten zum Beispiel Moldawien und Georgien einst die ganze Sowjetunion mit Wein und Cognac. Ebenfalls in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit wurde die Frage eines Anschlusses an Rumänien intensiv und kontrovers diskutiert. Das Land drohte hieran fast zu zerbrechen – ohne dass dies in der mitteleuropäischen Öffentlichkeit wahrgenommen wurde.

Transnistrien gilt international als nicht anerkannt. (Foto: Johann-Bernhard Haversath)

Transnistrien: ein eingefrorener Konflikt

Parallel dazu eskalierte die Entwicklung in Transnistrien, dem schmalen Landstreifen jenseits des Dnjestr. In Sowjetzeiten lagen hier um Ribniţa, Tiraspol und Tigina (Bender) die Zentren der Schwer- und der petrochemischen Industrie, gemanagt von der russischsprachigen Elite. Weil die Regierung in Chişinău auf die Anliegen der Wortführer Transnistriens aber nicht eingehen wollte, kam es zum bewaffneten Konflikt, der erst nach dem Eingriff des russischen Militärs beigelegt wurde. Seit 1994 gibt es hier einen „eingefrorenen“ Konflikt: Transnistrien ist ein international nicht-anerkanntes Land, abgesichert durch russische Truppen.

Wer dieses Land besucht, reibt sich über die verbreitete Symbolik die Augen. Staatsembleme mit Hammer und Sichel, Ährenkranz, Weintrauben, dem Dnister, einem roten Stern und einer aufgehenden Sonne begrüßen die wenigen Gäste, die in die Hauptstadt Tiraspol kommen. Die verbreitete Abkürzung ПМР/PMR bedeutet Pridnestrowische Moldauische Republik oder kurz Pridnestrowien, was am Dnister gelegenes Land bedeutet, wie Transnistrien gerne genannt werden möchte.

Transnistrien Lenin Parlament Tiraspol Moldawien Moldau
Lenin vor dem transnistrischen Parlament in Tiraspol. (Foto: Markus Bingel)

Vieles mutet wie in einem surrealen Film an: Das nicht anerkannte Land macht sich älter als es ist (1990!), es hat eine eigene Währung und eigene Briefmarken, die allerdings nur in Transnistrien gelten. Gleichzeitig führt es aber das gleiche internationale Autokennzeichen wie Moldawien (MD) und spielt zusammen mit Moldawien Fußball. Der FK Sheriff Tiraspol holt regelmäßig den Titel des Landesmeisters in Moldawien.

Mit Fußball, nicht mit Menschenrechten oder internationalen Auszeichnungen, schaffte es Tiraspol im September 2021 in die europäische Presse: Real Madrid kassierte gegen die Underdogs aus Osteuropa eine 2:1 Heimniederlage. Die Süddeutsche Zeitung kommentierte:

„Der Sieg von Sheriff Tiraspol bei Real Madrid ist nicht nur eine der größten Champions-League-Sensationen seit Jahren – sondern auch der Erfolg eines Projektes, das dem Image eines zwielichtigen Regimes dienen soll. Da kommt aus dem fernen Osten Europas ein völlig unbekannter Klub namens FK Sheriff Tiraspol daher, qualifiziert sich als Serienmeister der moldawischen Liga für die Champions League und gewinnt am zweiten Spieltag mal eben 2:1 bei Real Madrid. Selten genug gibt es in der durchkapitalisierten Fußballwelt noch solche überraschenden Ereignisse“.

Die sportliche Sensation hält uns den Spiegel vors Gesicht: Kaum ein Mitteleuropäer kennt das Land, auch selbsternannte Experten verfügen nicht immer über eigene Landeserfahrungen.

Aus Fehlern gelernt: Teilautonomes Gagausien

Wieder etwas ganz anderes ist Gagausien (gesprochen: Gaga-u-sien). Hier lebt, auf vier Siedlungsinseln verteilt, eine russisch- und türkischsprachige Ethnie, die gut 150.000 Einwohner umfasst. Sie hat ihre Hauptstadt in Comrat im Süden Moldawiens. Als die Vertreter Gagausiens ebenfalls mit einer Loslösung von Moldawien drohten, reagierte man in Chişinău nach den Erfahrungen mit Transnistrien besonnener und bot eine Teilautonomie an. Seit 1995 ist dieser Status zwar durch die Verfassung abgesichert – doch die Anfeindungen und Einschüchterungen durch nationalistische Parteien Moldawiens halten an; das interethnische und staatliche Miteinander leidet darunter.

Der Blick hinter die Kulissen zeigt, dass die Probleme des Landes sehr komplex sind. Die Mehrheit vor allem der jungen Bewohner Gagausiens spricht Russisch, sie können sich aber zumeist mühelos zwischen der russischen und moldawischen/rumänischen Sprache hin- und herbewegen. Türkisch wird vornehmlich von den Älteren gesprochen. Aber: Alle Gagausen, egal ob russo-, turko- oder rumänophon, sind orthodoxe Christen. Nicht zu vergessen, dass es in Moldawien auch noch kleinere Minderheiten gibt: Ukrainer, Roma, Bulgaren, Polen, Juden und bis 1940 auch (Bessarabien-)Deutsche.

Es bleibt aber nicht bei den sprachlichen Differenzen. Politisch gelten die Gagausen als russlandnah; 2014 mahnten sie mit einem Volksentscheid die Annäherung an Russland an – die nationalistischen Moldauer schäumten. Eine EU-Annäherung haben sich die Gagausen, anders als in vielen anderen Teilen Moldawiens, nicht auf ihre Fahnen geschrieben. Mit einem zuneigungsabhängigen Gaspreis spielt Russland auch hier die verschiedenen Gruppen aus, destabilisiert und bekämpft nicht nur die Ukraine, sondern hat auch das zersplitterte Moldawien längst im Blick, das von transnistrischem Strom und zu 100 Prozent von russischem Erdgas abhängt.

Chisinau beherbergt bis heute das Erbe des sozialistischen Städtebaus. (Foto: Johann-Bernhard Haversath)

Wie kann es weitergehen mit Moldawien?

Die Probleme sind groß, das arme, kleine Land ist höchst vulnerabel, keiner weiß, was auf die Moldawier noch zukommt. Wie über Polen ergoss sich im Frühjahr und Sommer auch über dieses Land ein gewaltiger Flüchtlingsstrom aus den Kriegsgebieten der Ukraine – von Odessa in der Ukraine bis Palanca, dem Grenzort mit Moldawien, sind es keine 50 Kilometer. Das agrarisch geprägte Moldawien hat allerdings kaum die Mittel, einer großen Menschenzahl zu helfen. Hilfe in der größten Not kommt überwiegend von Einzelpersonen und Familien, die Ukrainer in ihre Wohnungen oder Häuser aufnehmen.

Seit Jahren sind die Perspektiven Moldawiens aufgrund der komplexen ethnischen, politischen und wirtschaftlichen Lage unklar. Ob der metaphorisch lange Weg nach Westen, der kurze Weg nach Osten oder der eigene regionale Weg gewählt wird oder werden kann, ist heute schwieriger denn je zu erkennen. Soviel aber kann bilanziert werden: Das Beispiel Moldawien zeigt überdeutlich, dass Räume und Staaten nicht einfach bestehen, sondern als Ergebnis von Praktiken – von Destabilisierung und Einschüchterung ebenso wie von Förderung und Unterstützung – in einem historischen und ideologischen Kontext zu sehen sind. Auch unsere Wahrnehmung Moldawiens wird über Narrative gelenkt, interessenbezogen geleitet und oft genug auch ausgeblendet. Das kleine Land lag die letzten Jahrzehnte stets im Schatten der mitteleuropäischen Wahrnehmung.

Als Konstante bleibt rückblickend ein polyethnisches und multikulturelles Profil mit Besonderheiten, die auch im heterogenen Südosteuropa einzigartig sind. Die Wurzeln der aktuellen Probleme sind die immer wieder unterbrochene staatliche Entwicklung, die willkürliche Verschiebung der Landesgrenzen im 20. Jahrhundert und die unzureichende gesellschaftliche Aufarbeitung der zurückliegenden Epochen.

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Johann-Bernhard Haversath ist emeritierter Professor für Geographiedidaktik an der Universität Gießen. Er hat sich mit gegenwärtigen Transformationsprozessen beschäftigt und ist auf die Länder Südost- und Osteuropas spezialisiert.

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