Moldawien ist in den Köpfen vieler Menschen ein weit entfernter, unbekannter Staat. Nur manchmal, vornehmlich bei Wahlen, scheint das Land in den Medien kurz auf. Dabei lohnt sich ein genauerer Blick.
Einerseits zeigen sich hier viele Brüche des heutigen Europas wie in einem Brennglas, andererseits gibt es Fragen (fast) ohne Ende: Welche wirtschaftlichen Probleme bedrücken das Land? Welche Rolle spielen die gegenwärtigen und vergangenen Strukturen in Politik, Kultur und Gesellschaft? Wo verortet sich das Land zwischen Russland und der EU? Präsentiert die EU überhaupt eine attraktive Perspektive für die Bewohner des Landes?
Die geostrategische Lage lässt schnell Ängste aufkommen. Nur scheinbar ist Moldawien Russlands raschem Zugriff durch die dazwischen liegende Ukraine entzogen. Doch ein schmaler Streifen im Osten des Landes, in Transnistrien, hat sich 1992 für selbständig erklärt und wird seitdem von russischem Militär geschützt. Putins Armee ist also schon in Land. Moldawiens Konflikt mit Transnistrien gilt seit Jahrzehnten als eingefroren, aber nicht gelöst. Die Lage ist unübersichtlich. Hinzu kommt, dass der Riss zwischen proeuropäischer und prorussischer Einstellung quer durch das ganze Land geht. Trotz alledem liegt Moldawien immer noch im Schatten der mitteleuropäischen Aufmerksamkeit. Kaum jemand weiß, wie das Land eigentlich genau heißt: Moldau oder Moldawien? In der Eigenbezeichnung nennt es sich Moldóva, im Deutschen ist Moldau geläufig, aber mehrdeutig: Auch der Osten Rumäniens trägt nämlich diesen Namen, übernommen vom Fluss Moldau – nicht zu verwechseln mit der böhmischen Moldau, die durch Prag fließt. Schon der Name scheint also Probleme zu bereiten und Verwirrung auszulösen. Entwirren wir daher dieses Knäuel aus mitteleuropäischer Unkenntnis und zeitlichen Überlagerungen, wie es im Umfeld des russischen Angriffskriegs in der Ukraine mit einem Schlag offenkundig wurde.
Moldawien gilt als ärmstes Land Europas, es ist sogar noch deutlich ärmer als Albanien. Das Land zwischen den Flüssen Pruth im Westen und Nistru/Dnister im Osten ist nicht größer als Nordrhein-Westfalen, hat aber nur 20 Prozent der Einwohnerzahl von NRW. Doch die eigentlichen Probleme dieses Landes kommen in den Größenangaben nicht zum Ausdruck. Sie liegen vielmehr in seiner Geschichte und seiner wechselnden geostrategischen Bedeutung. Das Land liegt zwischen Rumänien und der Ukraine. Seit einem Gebietsaustausch von 2001 hat es ganz im Süden in der Kleinstadt Giurgiulești auf einer Länge von rund 300 m einen Hafen an der Donau, die als internationale Wasserstraße gilt. Damit erhielt das Binnenland über das Schwarze Meer einen Zugang zu den Weltmeeren – seine Souveränität und Handlungsfähigkeit schien gesichert, wäre da nicht der Russlands Krieg gegen die Ukraine dazwischengekommen.
Bewegte Vergangenheit Moldawiens
Moldawien hat eine sehr verwickelte Vergangenheit. Das Land trat nie aus dem Schatten seiner mächtigen, dominierenden Nachbarn heraus. Es war immer wieder Spielball großer Reiche. Im 13. Jahrhundert hatten tatarisch-mongolische Khane die Oberherrschaft, später gab Polen-Litauen den Ton an. Ab 1512 geriet das Land zwischen Prut und Dnister in den Einflussbereich des Osmanischen Reichs, nach 300 Jahren folgte das zaristische Russland.
Im 20. Jahrhundert wird es dann richtig turbulent: In kurzen Abständen wechseln die staatlichen Zuordnungen. Je zwei Mal gehörte das Land zu Rumänien oder zur Sowjetunion – mal für kurze, mal für längere Zeit. Was die ganze Sache noch komplizierter macht: Die Außengrenzen werden bei jedem Herrschaftswechsel anders abgesteckt, Kontinuität hat es in dieser Zeit nie gegeben. Den heutigen territorialen Zuschnitt setzte Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg fest.
Moldawien lag und liegt im Überschneidungsbereich der angrenzenden Mächte. Mit dem zaristischen Einfluss breitete sich ab 1812 auch die russische Sprache und die kyrillische Schrift aus, die Rumänen – sie nannten das ganze Land zwischen Pruth und Dnister Bessarabien – förderten ihre Sprache und die lateinische Schrift. Der wiederholte kurzfristige Wechsel dauerte bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 an. Heute stehen beide Sprachen und Schriften gleichberechtigt nebeneinander.
Die moldawische Eigenstaatlichkeit, die seit 1991 besteht, ist keine Zeit der inneren und gesellschaftlichen Ruhe. Schon im Jahr 1991 brachen über Nacht ganze Märkte weg: So versorgten zum Beispiel Moldawien und Georgien einst die ganze Sowjetunion mit Wein und Cognac. Ebenfalls in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit wurde die Frage eines Anschlusses an Rumänien intensiv und kontrovers diskutiert. Das Land drohte hieran fast zu zerbrechen – ohne dass dies in der mitteleuropäischen Öffentlichkeit wahrgenommen wurde.
Transnistrien: ein eingefrorener Konflikt
Parallel dazu eskalierte die Entwicklung in Transnistrien, dem schmalen Landstreifen jenseits des Dnjestr. In Sowjetzeiten lagen hier um Ribniţa, Tiraspol und Tigina (Bender) die Zentren der Schwer- und der petrochemischen Industrie, gemanagt von der russischsprachigen Elite. Weil die Regierung in Chişinău auf die Anliegen der Wortführer Transnistriens aber nicht eingehen wollte, kam es zum bewaffneten Konflikt, der erst nach dem Eingriff des russischen Militärs beigelegt wurde. Seit 1994 gibt es hier einen „eingefrorenen“ Konflikt: Transnistrien ist ein international nicht-anerkanntes Land, abgesichert durch russische Truppen.
Wer dieses Land besucht, reibt sich über die verbreitete Symbolik die Augen. Staatsembleme mit Hammer und Sichel, Ährenkranz, Weintrauben, dem Dnister, einem roten Stern und einer aufgehenden Sonne begrüßen die wenigen Gäste, die in die Hauptstadt Tiraspol kommen. Die verbreitete Abkürzung ПМР/PMR bedeutet Pridnestrowische Moldauische Republik oder kurz Pridnestrowien, was am Dnister gelegenes Land bedeutet, wie Transnistrien gerne genannt werden möchte.
Vieles mutet wie in einem surrealen Film an: Das nicht anerkannte Land macht sich älter als es ist (1990!), es hat eine eigene Währung und eigene Briefmarken, die allerdings nur in Transnistrien gelten. Gleichzeitig führt es aber das gleiche internationale Autokennzeichen wie Moldawien (MD) und spielt zusammen mit Moldawien Fußball. Der FK Sheriff Tiraspol holt regelmäßig den Titel des Landesmeisters in Moldawien.
Mit Fußball, nicht mit Menschenrechten oder internationalen Auszeichnungen, schaffte es Tiraspol im September 2021 in die europäische Presse: Real Madrid kassierte gegen die Underdogs aus Osteuropa eine 2:1 Heimniederlage. Die Süddeutsche Zeitung kommentierte mit spitzem Stift:
„Der Sieg von Sheriff Tiraspol bei Real Madrid ist nicht nur eine der größten Champions-League-Sensationen seit Jahren – sondern auch der Erfolg eines Projektes, das dem Image eines zwielichtigen Regimes dienen soll. Da kommt aus dem fernen Osten Europas ein völlig unbekannter Klub namens FK Sheriff Tiraspol daher, qualifiziert sich als Serienmeister der moldawischen Liga für die Champions League und gewinnt am zweiten Spieltag mal eben 2:1 bei Real Madrid. Selten genug gibt es in der durchkapitalisierten Fußballwelt noch solche überraschenden Ereignisse“.
Die sportliche Sensation hält uns den Spiegel vors Gesicht: Kaum ein Mitteleuropäer kennt das Land, auch selbsternannte Experten verfügen nicht immer über eigene Landeserfahrungen.
Aus Fehlern gelernt: Teilautonomes Gagausien
Wieder etwas ganz anderes ist Gagausien (gesprochen: Gaga-u-sien). Hier lebt, auf vier Siedlungsinseln verteilt, eine russisch- und türkischsprachige Ethnie, die gut 150.000 Einwohner umfasst. Sie hat ihre Hauptstadt in Comrat im Süden Moldawiens. Als die Vertreter Gagausiens ebenfalls mit einer Loslösung von Moldawien drohten, reagierte man in Chişinău nach den Erfahrungen mit Transnistrien besonnener und bot eine Teilautonomie an. Seit 1995 ist dieser Status zwar durch die Verfassung abgesichert – doch die Anfeindungen und Einschüchterungen durch nationalistische Parteien Moldawiens halten an; das interethnische und staatliche Miteinander leidet darunter.
Der Blick hinter die Kulissen zeigt, dass die Probleme des Landes sehr komplex sind. Die Mehrheit vor allem der jungen Bewohner Gagausiens spricht Russisch. Die Gagausen können sich aber zumeist mühelos zwischen der russischen und der moldawischen/rumänischen Sprache hin- und herbewegen. Türkisch wird vornehmlich von den Älteren gesprochen. Aber: Alle Gagausen, egal ob russo-, turko- oder rumänophon, sind orthodoxe Christen. Nicht zu vergessen, dass es in Moldawien auch noch kleinere Minderheiten gibt: Ukrainer, Roma, Bulgaren, Polen, Juden und bis 1940 auch (Bessarabien-)Deutsche.
Es bleibt aber nicht bei den sprachlichen Differenzen. Politisch gelten die Gagausen als russlandnah; 2014 mahnten sie mit einem Volksentscheid die Annäherung an Russland an – viele Moldauer, nicht nur die nationalistischen, schäumten. Eine EU-Annäherung haben sich die Gagausen, anders als in vielen anderen Teilen Moldawiens, nicht auf ihre Fahnen geschrieben – bei den Präsidentschaftswahlen 2024 entschieden sich hier 97% für den prorussischen Kandidaten. Mit einem zuneigungsabhängigen Gaspreis spielt Russland auch hier die verschiedenen Gruppen gegeneinander aus, destabilisiert und bekämpft nicht nur die Ukraïne, sondern hat auch das zersplitterte Moldawien längst im Blick, das von transnistrischem Strom und zu 100 Prozent von russischem Erdgas abhängt.
Wo steht Moldawien heute?
Die Probleme sind groß, das arme, kleine Land ist höchst vulnerabel, keiner weiß, was auf die Moldawier noch zukommt. Wie über Polen ergoss sich im Frühjahr und Sommer 2022 auch über dieses Land ein gewaltiger Flüchtlingsstrom aus den Kriegsgebieten der Ukraïne – von Odessa in der Ukraïne bis Palanca, dem Grenzort zu Moldawien, sind es keine 50 Kilometer. Das agrarisch geprägte Moldawien hat allerdings kaum die Mittel, einer großen Menschenzahl zu helfen. Hilfe in der größten Not kam überwiegend von Einzelpersonen und Familien, die Ukraïner vorübergehend in ihre Wohnungen oder Häuser aufnahmen.
Seit Jahren sind die Perspektiven Moldawiens aufgrund der komplexen ethnischen, politischen und wirtschaftlichen Lage unklar. Ob der metaphorisch lange Weg nach Westen, der kurze Weg nach Osten oder der eigene regionale Weg gewählt wird oder werden kann, ist heute schwieriger denn je zu erkennen. Soviel aber kann bilanziert werden: Als Folge des Ukraïne-Kriegs nimmt die Polarisierung in der Bevölkerung zu.
Das Beispiel Moldawien zeigt überdeutlich, dass Räume und Staaten nicht einfach bestehen, sondern als Ergebnis von Praktiken – von Destabilisierung und Einschüchterung ebenso wie von Förderung und Unterstützung – in einem historischen und ideologischen Kontext zu sehen sind. Auch unsere Wahrnehmung Moldawiens wird über Narrative gelenkt, interessenbezogen geleitet und oft genug auch ausgeblendet. Das kleine Land lag die letzten Jahrzehnte stets im Schatten der mitteleuropäischen Wahrnehmung.
Bei der Stichwahl im November 2024 stand es – wie schon öfter zuvor – Spitz auf Knopf: Die proeuropäische Ministerpräsidentin Maia Sandu konnte sich zwar erneut durchsetzen, die politischen Verhältnisse scheinen aber nur für den flüchtigen Beobachter geklärt zu sein. Die großen Probleme des Landes (Korruption, mangelnde Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftliche Schwäche) sind längst nicht vom Tisch. Doch alle früheren Proteste zeigten keine oder kaum eine Wirkung; im Gegenteil: sie desillusionierten viele Teilnehmer und förderten fatalistische Einstellungen.
Als Konstante bleibt rückblickend ein polyethnisches und multikulturelles Profil mit Besonderheiten, die auch im heterogenen Südosteuropa einzigartig sind. Plumpe Erklärungen, mit denen Menschen nach Schein-Kausalitäten geordnet werden („rumänisch sprechende Moldawier sind und wählen proeuropäisch“), greifen zu kurz. Die Wurzeln der aktuellen Probleme sind wichtig, aber nicht leicht auf einen Nenner zu bringen:
- Die kulturelle Entwicklung wurde seit dem 19. Jahrhundert maßgeblich von Russland geprägt;
- in der Epoche der Aufklärung wurde das Land förmlich in einem großen Bogen
umgangen; hinzu kommen - die immer wieder unterbrochene staatliche Entwicklung, die willkürlichen Verschiebungen der Landesgrenzen im 20. Jahrhundert durch Rumänien, Russland, die Sowjetunion oder Nazi-Deutschland sowie die einseitige, unzureichende gesellschaftliche Aufarbeitung der konträren zurückliegenden Epochen.
Die zu Anfang gestellten Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Das generelle Vertrauen in Politiker und Politik fehlt. Die vielen Systembrüche der Vergangenheit und ihre mangelhafte Aufarbeitung spielen hierbei sicher eine große Rolle. Die landwirtschaftliche Prägung (mit Ausnahme von Transnistrien), die marginale Lage und die Platzierung im Überschneidungsbereich auswärtiger Interessen (Rumänien, EU, Russland, Türkei) setzen dem kleinen Land sehr zu. Demokratische, zivilgesellschaftliche Strukturen entwickeln sich daher nur vereinzelt, zaghaft und langsam – in Transnistrien fehlen sie gänzlich. Der Druck von außen, insbesondere von Russland, trifft die Menschen ganz elementar: Wenn die Energiepreise je nach politischem Wohlverhalten der Abnehmerländer steigen oder nicht, wenn sich das kleine Land förmlich im Würgegriff von Gazprom befindet, sind das keine guten Voraussetzungen für die gesellschaftliche und politische Entwicklung.
Viele Familien Moldawiens überleben die schwierige Gegenwart nur durch Rimessen, d. h. durch Auslands-Überweisungen von Arbeitsmigranten, vielfach aus der EU, aber auch aus Russland. Jede Migrantengruppe bringt dabei eigene Erfahrungen mit in die Heimat zurück. Da verwundert es nicht, dass moldauische EU-Migranten als Auslandswähler 2024 ganz überwiegend proeuropäisch (83%) stimmten. Die EU-Perspektive ist – dieser Eindruck drängt sich auf – umso attraktiver, je besser sie persönlich bekannt ist und je mehr sie erlebt wurde.