Nordostestland umfasst die beiden Kreise Lääne-Viru und Ida-Viru mit ihren beiden bedeutendsten Zentren Rakvere und Narva. Hier liegen einige traumhafte Fischerdörfer und alte Gutshöfe, aber auch wunderschöne Strände und mittelalterliche Festungen. Kurz – es gibt eine ganze Menge zu entdecken. In diesem Artikel wollen wir euch den Norden des Landes mit seiner in einigen Städten überwiegend russischsprachigen Bevölkerung einmal genauer vorstellen.
Lahemaa-Nationalpark
Lahemaa bedeutet übersetzt so viel wie „Land der Buchten“ und hier recken sich an der Nordküste vier markante Halbinseln in den Finnischen Meerbusen. Der Nationalpark steht in gewisser Weise stellvertretend für ganz Estland, denn hier finden sich einige Elemente, für die das ganze Land bekannt ist. Jenseits der felsigen Küste erstrecken sich weite Felder, auf den Kraniche und Störche rasten, aber auch Wälder und Bäche finden sich hier.
Auf den Spuren historischer Gutshöfe
Auch in Nordostestland wurden viele Gegenden lange von deutschbaltischen Adligen verwaltet. Diese ließen oft prächtige Gutshäuser errichten, von denen viele die Zeit überdauert habe. Das bekannteste unter ihnen ist Palmse. Aber auch die Anwesen von Kolkja – obwohl teilweise eine Ruine – und Sagadi sind absolut sehenswert. Die weitläufige Anlage ist übrigens auch Sitz der estnischen Nationalparkverwaltung. Der vierte der bekannten Gutshöfe, Vihula, beherbergt ein schickes Hotel*. Lahemaa könnt ihr am einfachsten mit dem Auto oder mit dem Rad erkunden. Alternativ spaziert ihr auf markierten Wanderwegen wie dem Biberpfad (auf dem ihr zumindest Biber-Dämme entdecken werdet).
Alte Fischerdörfer und moderne Kunst
Traditionelle estnische Holzhäuser gibt es hingegen im alten Fischerdorf Altja zu sehen. Käsmu hingegen ist als Kapitänsdorf berühmt geworden. Und wenn ihr euch für Kunst interessiert, werdet ihr vom tollen Museum in Viinistu direkt am Meer garantiert nicht enttäuscht sein.
Rakvere
Mit seinen gut 15.000 Einwohner ist Rakvere (deutscher Name: Wesenberg) immerhin die siebtgrößte Stadt des Landes und nach Narva und Kohtla-Järve die größte Stadt im Nordosten des Landes. Rakvere ist ideal, wenn ihr den Nationalpark Lahemaa besichtigen wollt und hier euer Quartier aufschlagt. Aber auch in der Stadt selbst gibt es allerhand zu sehen!
Ordensburg
Hoch auf einem Berg thront eine beeindruckende Burg aus dem Mittelalter. Sie wurde im 14. Jh. von Dänemark an den Deutschen Orden verkauft, der sie stark ausbaute. In der Folge wechselte sie mehrfach ihren Besitzer, Russland, Polen und Schweden nutzten sie als Festung. Nachdem sie mehrfach zerstört worden war, richtete man hier in den 1970er Jahren ein Museum ein und restaurierte die Anlage. Hier könnt ihr euch nicht nur über das Leben im Mittelalter informieren, sondern genießt außerdem auch noch eine tolle Sicht auf die Stadt!
Stadtbürgermuseum
Neben dem Burgmuseum gibt es in Rakvere noch eine weitere bedeutende Ausstellung, die sich dem Leben der Bürger der Stadt Anfang des 20. Jahrhunderts widmet und mit einer englischsprachigen App erkundet werden kann. Untergebracht ist die kleine Schau in einem historischen Bürgerhaus aus dem 18. Jahrhundert.
Dreifaltigkeitskirche
Mitten im Zentrum erhebt sich der beeindruckend hohe Turm der Stadtpfarrkirche. Sie verfügt über eine barocke Kanzel mit wertvollen Holzschnitzereien und einen wundervollen Altar aus dem frühen 18. Jahrhundert.
Pauluskirche
Südöstlich der Dreifaltigkeitskirche steht ein weiteres bedeutendes Gotteshaus. Es ist dem heiligen Paulus geweiht. Mit dem Bau wurde 1931 begonnen, 1940 wurde die Kirche fertiggestellt, also in der Zeit der kurzen estnischen Unabhängigkeit zwischen den beiden Weltkriegen. Ursprünglich sollten zwei filigrane Spitzen die beiden massiven Türme krönen, diese wurden aber nie fertiggestellt, da die Sowjetunion einen Tag nach der Einweihung der Kirche in Estland einmarschierte. Unter den Sowjets wurde die Kirche dann zu einer Sporthalle umfunktioniert, auch heute noch dient sie als solche. Derzeit entsteht hier eine moderne Konzerthalle, die architektonisch mit der Kirche korrespondieren soll.
Neue, alte Wohnblöcke
2020 wurde Rakvere übrigens zu einem der Top 100 Reiseziele im Bereich nachhaltiger Tourismus gekürt. Zu verdanken hat die Stadt das vor allem dem Umstand, dass gleich ganze Straßenzüge, die aus alten sowjetischen Plattenbauten bestehen, fitgemacht wurden für die Zukunft. So wurden nicht nur Heizkosten eingespart, sondern auch in kosmetischer Hinsicht hat sich in Rakvere einiges getan.
Sillamäe
Sillamäe ist nur unwesentlich kleiner als Rakvere und liegt direkt an der Ostsee. Im Gegensatz zum mittelalterlichen Rakvere ist sie sehr jung, denn erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wuchs der kleine Ort aufgrund der Ölschieferindustrie, die hier angesiedelt wurde. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurde hier mit der Verarbeitung von Uranerzen begonnen, die auch für den Bau der ersten Atombombe der Sowjetunion eingesetzt wurden. Und so entwickelte sich Sillamäe zu einem wichtigen Rüstungsstandort, auch heute noch werden hier seltene Erze und Erden verarbeitet.
Ein einmaliges Architekturensemble
Das allein wäre jetzt vermutlich noch kein Grund, die Stadt zu besuchen. Was Sillamäe aber so besonders macht, ist seine Architektur. Diese stammt nämlich in der Hauptstraße, der Rumjantsevi-Straße und der Kesk fast ausschließlich aus der Stalinzeit und verdeutlicht gut die architektonischen Ideale der damaligen Zeit.
Estnisches Bergbaumuseum
Die in Sillamäe verarbeiteten Erze stammten teilweise aus der Gegend um Kohtla-Nõmme, einem kleinen Ort mit nur 1000 Einwohnern. Von 1937 an wurde hier Ölschiefer abgebaut. Eigentlich handelt es sich bei Ölschiefer geologisch betrachtet nicht wirklich um Schiefer, Öl kann man aber dennoch daraus gewinnen, wenn auch kein besonders hochwertiges. In Narva wird heute dennoch Ölschiefer zum Betreiben eines Kraftwerks genutzt. Es ist das größte Ölschieferkraftwerk der Welt. Den Abbau in Kohtla-Nõmme stellt man ein, da die Kosten für das minderwertige Öl mit der Zeit völlig aus dem Ruder liefen. Zukünftig könnte diese Art der Energiegewinnung hinsichtlich der endlichen Ölvorkommen im arabischen Raum aber wieder rentabel werden. Und immerhin handelt es sich um einen der wenigen Bodenschätze Estlands.
In Kohtla-Nõmme jedenfalls kann man heute eine Idee von der Arbeit der Bergleute zu Sowjetzeiten gewinnen. Die Anlage wirkt etwas in die Jahre gekommen, vereint aber gerade deshalb den Charme eines Industriedenkmals mit dem eines Lost Place und ist definitiv einen Besuch wert. Besichtigt werden können sowohl die Tunnel unter Tage als auch die Veredelungsanlage, der ein modernes Besucherzentrum angeschlossen ist.
Kiviõli Seikluskeskus
Im Nordosten gibt es, wie ihr bereits bemerkt habt, einige skurrile Sehenswürdigkeiten. Und auch Kiviõli Seikluskeskus bildet hier keine Ausnahme. Es handelt sich hierbei um eine ehemalige Abraumhalde genau zwischen Rakvere und Narva, die zu einem kleinen Sport- und Freizeitpark umgebaut wurde. Und so könnt ihr hier im Sommer mit dem BMX-Rad die Halde runterbrettern, mit dem Boot um die Halde fahren oder im Winter auf die Skier steigen und den Berg runtersausen. Hier werden auch Kurse für Anfänger und Kinder angeboten, sodass ganzjährig für die komplette Familie etwas geboten wird.
Nationalpark Alutaguse
Südöstlich von Rakvere und einige Kilometer nördlich des Peipus-Sees liegt der Nationalpark Alutaguse. In der spärlich besiedelten Region blieb die Natur über Jahrhunderte nahezu unberührt, sodass ihr heute eine relativ urtümliche Landschaft aus Mooren und Wäldern besuchen könnt. Auf mehreren Wanderwegen lässt sich der Nationalpark bequem erkunden und im Naturzentrum Iisaku erhaltet ihr viele wertvolle Informationen zu dieser beruhigend wirkenden Naturlandschaft. Dort erfahrt ihr auch mehr über die seltenen tierischen Bewohner der Region wie die Gleithörnchen, die Moorschneehühner und Schwarzstörche.
Narva
Narva ist sicher nicht die Schönste aller estnischen Städte. Ganz im Nordosten gelegen, fristet sie zudem ein wenig ein Schattendasein. Die Stadt ist gewissermaßen zweigeteilt. Der Fluss, der der Stadt ihren Namen verlieh und ein wenig nördlich der Stadt in die Ostsee mündet, bildet hier die EU-Außengrenze und spaltet das estnische Narva vom viel kleineren russischen Iwangorod.
Narva ist schon alleine wegen der berühmten Hermannsfeste, deren russisches Pendant auf der anderen Seite des Flusses steht, einen Besuch wert. Wir schauen uns in diesem Artikel diese ungewöhnliche Stadt bald genauer an und zeigen euch, wie es heute in der drittgrößten estnischen Stadt (ca. 55.000 Einwohner) mit ihrer zu 95 % russischsprachigen Bevölkerung so zugeht. Daher behandeln wir sie hier nur ganz kurz und reisen gleich weiter zur letzten Station auf unserer Reise durch den Nordosten Estlands.
Narva-Jõesuu
Hungerburg lautet der nicht gerade schmeichelhafte deutsche Name des nordöstlichsten aller estnischen Orte. Narva-Jõesuu grenzt unmittelbar an Russland – und an die Ostsee. Bekannt war Narva-Jõesuu mit seinem langen Sandstrand lange Zeit vor allem als Kurort, wovon die vielen, teils verfallenen Kurzhotels und Holzhäuser aus dem 19. Jahrhundert zeugen. Zu ihnen gesellten sich zu sowjetischen Zeiten mehrere moderne Sanatorien und Erholungsheime. Es ist genau diese Mischung aus sowjetischen und Gebäuden aus der Zarenzeit in Kombination mit dem Meer und dem Strand, die den Reiz dieses ungewöhnlichen Ortes ausmacht. In jüngster Zeit hat sich Narva-Jõesuu, das lange unter dem Wegbleiben russischer Kurgäste zu leiden hatte, wieder erholt und erwacht langsam aus seinem langen Dornröschenschlaf.
Buch- und Filmtipps
Ihr seid neugierig geworden und wollte Estland genauer kennenlernen? Dann holt euch jetzt den Reiseführer „Baltikum“, den mein Kollege Thorsten Altheide zusammen mit anderen Experten im Reise Know-How Verlag veröffentlicht hat. Hier findet ihr nicht nur viele Infos zu Estland, sondern auch zu Litauen und Lettland.
- Altheide, Thorsten (Autor)
Historischer Roman des estnischen Autors Jaan Kross, der eine Liebesgeschichte in Narva beschreibt.
- Kross, Jaan (Autor)
In diesem Buch beschreibt die Reisejournalistin Stefanie Bisping Estland auf eine sehr persönliche Weise und zeichnet mit vielen interessanten Hintergrundgeschichten ein stimmiges Bild von Land und Leuten.
- Stefanie Bisping (Autor)
Schräge Geschichte über die estnische Vergangenheit, der viel über die Seele Estlands erzählt.
Der estnischstämmige finnische Autor Ilmar Taska setzt sich in diesem Buch auf unkonventionelle Weise mit der Nachkriegszeit in Estland auseinander.
Wunderbare Doku, die Estland und all seine Naturschönheiten vorstellt.
- Hauschild, Christoph (Regisseur)
- Zielgruppen-Bewertung: Infoprogramm
Wir hoffen, euch hat unser Ausflug nach Rakvere, Narva und in den Nordosten Estlands gefallen. Welches ist euer Lieblingsort für eine Estland Reise? Lasst es uns gerne wissen und schreibt uns einen Kommentar!