Dafür, dass die Esten ihr Land manchmal als „atheistischstes Land der Welt“ bezeichnen, ist Weihnachten in Estland erstaunlich präsent. Die Innenstädte sind festlich geschmückt, kein Laden und kein Café kommt ohne opulente Weihnachtsdeko aus. Wenn zu Weihnachten Schnee liegt, verwandeln sich estnische Städte wie Tallinn, Tartu und Pärnu in ein echtes Winterwunderland. Die Chancen auf weiße Weihnachten stehen immer noch gut, wenn sie auch keine Selbstverständlichkeit mehr sind, der Klimawandel lässt auch auf fast 60° Nord grüßen.
Stand der erste Weihnachtsbaum in Tallinn?
Selbst wenn die Kirche heute keine große Rolle in Estland spielt und die sowjetische Besatzungszeit ihren Teil dazu beigetragen hat, die christlichen Traditionen in Vergessenheit geraten zu lassen, reichen die Wurzeln des estnischen Weihnachtsfestes tief. Tallinn reklamiert für sich einen der ältesten dokumentierten Weihnachtsbäume weltweit: Bereits 1441 wurde er auf dem Rathausplatz aufgestellt, dort wo er heute wieder vor der Kulisse der gotischen Fassaden erglänzt. Ob es nun wirklich Tallinn war, wo der erste geschmückte, öffentliche Weihnachtsbaum aufgestellt wurde oder nicht: Sicher ist, dass das lutherische Baltikum seinen Anteil daran hatte, dass wir heute Weihnachtsbäume aufstellen!
Der Appetit kommt bei Essen
Was gehört noch zu Weihnachten in Estland? Na klar, gutes Essen! Aber weder Weihnachtsgans, noch Fondue und Raclette kommen auf den Tisch. Traditionell muss es sein und hier sind die deutschen Wurzeln vieler estnischer Traditionen gut zu sehen: Schweinebraten, Sauerkraut und Kartoffeln bilden die Basis des estnischen Weihnachtsmahls, verfeinert mit eingelegtem Kürbis und Preiselbeermarmelade. Natürlich hat jede Familie ihre eigenen Vorlieben. Zu einem traditionellen Festtagstisch gehören in Estland häufig Kartoffelsalat, der Rote-Bete-Salat rosolje oder der geschichtete Heringssalat kasukas („Pelzmantel“). Brot, saure Sahne und saure Gurken finden sich sowieso auf jedem Tisch. Beliebt sind auch Leberpastete und Sülze. Die Speisenauswahl ist also deftig-herzhaft, gesäuert und traditionell. Hier gelangt ihr übrigens zu unserem Artikel mit den leckersten Gerichten der estnischen Küche.
Estnische Hipsterbrauer
Während die Festtagsschmause zu Weihnachten in Estland etwas altmodisch daherkommen, sind die estnischen Brauer ganz vorne bei den internationalen Biertrends. Käsitööõlu, also „Handwerksbier“ oder eben craft beer, hört im Estnischen nicht nur auf einen zungenbrecherisch aussehenden Namen, sondern wird in unendlicher Vielfalt und bester Qualität angeboten. Viele Flaschen und Dosen sind zudem kreativ designt und bieten sich auch als Souvenir an. Bekannte Kleinbrauereien sind etwa Põhjala, Pühaste, Pihtla, Pöide oder Purtse. Die Vereinigung estnischer Mikrobrauereien hat über 30 Mitglieder, die eine geradezu fantastische Anzahl von Biersorten anbieten, darunter neben IPA, Porter & co. natürlich auch spezielle Weihnachtsbiere. Das Wort „Weihnachtsbier“ allein ist auf Estnisch schon ein Augenschmaus, denn es lautet: jõuluõlu.
Ein schönes Plätzchen für alle
Das estnische Gegenstück zu Weihnachtsplätzchen sind piparkoogid – Pfefferkuchen. Die festen, dunkelbraunen und aromatischen Kekse sind nicht wegzudenken, wenn Weihnachten in Estland gefeiert wird. Der Grundteig ist schnell zubereitet oder kann fertig gekauft werden und hält sich lange im Kühlschrank. Wenn Zeit ist für die nächste Rutsche, wird er ausgerollt, mit Formen ausgestochen und gebacken. Dann lassen sich die Pfefferkuchen beliebig verfeinern, vor allem mit bunter Zuckermasse, sodass aus den geradezu unscheinbaren Plätzchen kleine, funkelnde Kunstwerke werden. Die Königsdisziplin ist das Pfefferkuchenhaus in glitzernder Puderzuckerlandschaft.
Es geht um die (Blut)wurst!
Eine Zutat zu Weihnachten in Estland fehlt noch. Der unwahrscheinliche Star des Kühlregals und Herzenssache für viele Esten, Gegenstand nationaler Diskussionen, Analysen und Abstimmungen: die Blutwurst! Was den Spaniern ihr Serrano-Schinken und den Amerikanern ihr Thanksgiving-Truthahn, ist den Esten ihre verivorst, also Blutwurst. Wer jetzt an die rötliche, schnittfeste Blutwurst denkt, die man auf einem traditionellen deutschen Abendbrottisch finden könnte, liegt falsch.
Die estnische Blutwurst sieht aus wie eine dicke, kurze Bratwurst, ist bräunlich-schwarz und wird heiß serviert. Die Haut wird knusprig und hält den breiigen, grobkörnigen Inhalt zusammen. Was für viele – außer eingefleischten Fans exotischer Speisen – vielleicht abschreckend klingt, ist tatsächlich richtig lecker. Aromatisch-winterlich gewürzt, wärmend und urig, ist die Blutwurst genau das richtige, wenn es draußen knackig kalt wird und der Körper nach Energie ruft. Also: Einfach mal probieren.
Der Weihnachtsmann kommt zur Prüfung
Noch eine Besonderheit der estnischen Weihnachtszeit muss man hier erwähnen, den jõuluvana, also den „Weihnachtsalten“. Dieser Weihnachtsmann sieht zwar nicht anders aus als anderswo, aber seine Rolle ist besonders. Und er ist sehr passend für den ewigen Streber unter den postsowjetischen Staaten: Estland hat solide Staatsfinanzen, gewinnt ständig bei der PISA-Studie, ist Spitzenreiter bei der Digitalisierung und glänzt mit beeindruckenden Wirtschaftswachstumsraten. Warum eigentlich funktioniert das in Estland alles so gut? Vielleicht liegt es auch am jõuluvana? Der tritt nämlich auf wie ein gutmütiger Lehrer, der eine Prüfung abnimmt.
Sitzt das Weihnachtsgedicht?
Der estnische Weihnachtsmann kommt in Form von Verwandten, Lehrern und Erziehern, Nachbarn oder ausgebildeten Schauspielern (!) zur Bescherung in estnische Familien, Schulen und Kindergärten oder Sportvereine. Dort fragt er dann die Kinder und Erwachsenen, ob sie denn auch brav und fleißig waren. Dann werden dem jõuluvana Gedichte vorgetragen, Lieder gesungen, Musikstücke gespielt oder getanzt. Als Belohnung teilt der Alte die Geschenke aus. Aber der Deal ist klar: Du musst etwas leisten und können, dann gibt es auch was. Wichtig ist vor allem, dass man sich Mühe gibt. Und so werden die Kunststücke mit großer Ernsthaftigkeit und Bemühung vorgetragen. Am Ende ist der Besuch des Weihnachtsmannes natürlich eine heitere und besinnliche Veranstaltung, aber dennoch: Leistung lohnt sich!
Zauberlandschaft und Kulturgenuss
Diese und andere Besonderheiten der estnischen Weihnachtszeit lassen sich gut bei einem Besuch in Estland im Winter erleben. Der Kulturkalender ist gut gefüllt, von den Weihnachtskonzerten vieler Künstler und Chöre, über das Weihnachtsjazz-Festival bis zum Filmfestival der dunklen Nächte PÖFF. Mit etwas Glück breitet sich der weiße Schneeteppich über die Landschaft und eine zauberhafte Stimmung erfüllt die festlich beleuchteten Städte. Natürlich hat auch die estnische Tourismusindustrie entdeckt, dass sich das vermarkten lässt. Der Tallinner Weihnachtsmarkt mit seinen festlichen beleuchteten Buden, feinstem Kunsthandwerk und den historischen Fassaden im Hintergrund ist absolut instagram-tauglich. Und so ist man nicht mehr allein, wenn man zu dieser Zeit durch Tallinns Altstadtgassen streift. Aber besinnlich-beschaulich ist die Atmosphäre allemal. Also: Häid jõule! – Frohe Weihnachten!
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- Altheide, Thorsten(Autor)
Habt ihr schon einmal Weihnachten in Estland gefeiert? Welcher estnische Weihnachtsbrauch gefällt euch am besten? Lasst uns gerne einen Kommentar da!