An wen denkt ihr, wenn ihr den Begriff „Rockmusik“ hört? The Beatles, The Rolling Stones, Scorpions, Queen, AC/DC? Und beim Namen „Punk-Rock“? Sex Pistols, The Exploited, Ramones, Die Ärzte, Motörhead … Diese Namen fallen wahrscheinlich jedem ein, der diesen Text liest. Diejenigen, die sich mit der Rockszene gut auskennen, werden sicherlich noch einige Dutzend Bands und Künstler nennen. Aber lasst mich raten – darunter findet sich keine einzige Band russischer bzw. sowjetischer Herkunft. Und an wen denkt ihr, wenn ihr den Begriff „Russki Rock“ bzw. Russische Rockmusik hört? Von den meisten meiner deutschen Bekannten habe ich bisher nur „Leningrad Cowboys“ als Antwort bekommen. Aber das sind Finnen. Wusstet ihr, dass es in Sibirien außer Schnee und Kälte auch Punk-Rock gibt?
Es ist völlig in Ordnung, wenn ihr jetzt ratlos seid, denn die Russische Rock-, Punk- und insbesondere Undergroundmusik ist in erster Linie ein russisches Kulturphänomen. Wobei auch nicht jeder Russe sich damit gut auskennt – diese Kulturschicht liegt gewissermaßen unter dem Eis. Unter genau unter diese Eisschicht wollen wir in diesem Artikel tauchen und schauen, weshalb Jegor Letow „immer dagegen war“!
„Das ist deine und meine Rock-’n’-Roll-Front“
Zitat aus einem Lied von Instrukcija po Wizhiwaniju
In der UdSSR wurde Kunst durch und durch kontrolliert und zensiert. Wer zu frei dachte, bekam im besten Fall keine Bühne und dessen Werke wurden nicht veröffentlicht. Trotz des Eisernen Vorhangs hat es das Rockvirus aus dem „bösen“ Westen geschafft, in die sowjetische Gesellschaft einzudringen. Die sowjetische Macht hatte erfolgslos versucht, es zu bekämpfen. Und wenn man etwas nicht bekämpfen kann, muss man die Kontrolle darüber gewinnen. Nach dieser Logik wurden in vielen Städten der Sowjetunion die sogenannten Rockclubs (oder Rocklabors in Moskau) gegründet, damit der KGB die Rockmusiker besser beobachten und kontrollieren konnte. Das war offensichtlich. Keine Veranstaltung durfte ohne Genehmigung von oben stattfinden. Illegale Aufzeichnungen und Auftritte – die sogenannten „Kwartirniki“ (vom Wort Kwartira – Wohnung) – gab es trotzdem.
Es gab mehrere Szenen, die nicht nur geografisch, sondern auch stilistisch voneinander getrennt waren. Die wichtigsten Hotspots in den 80er Jahren waren Sankt Petersburg und Sibirien.
Russische Rockmusik aus Sankt Petersburg
Sankt Petersbug (1924–1991 Leningrad) ist als „Russlands Fenster nach Europa“ bekannt und wird inoffiziell auch „Kulturhauptstadt Russlands“ genannt. Eine ähnliche Rolle spielte die Stadt in der Geschichte der russischen Rockmusik. Im Frühjahr 1984 besuchte die kalifornische Künstlerin Joanna Stingray zum ersten Mal die UdSSR und lernte dort Boris Grebenschtschikow kennen (Bilder der beiden findet ihr hier). Boris und seine Band Aquarium waren Pioniere des russischen Rocks. Joanna war so begeistert von Boris, seiner Musik und Leningrad, dass sie nach ihrer Rückkehr in die USA nur noch davon träumte, zurückzukommen – „Back in the U.S.S.R.“ wie die Beatles sangen.
Bei ihrem nächsten Besuch ging sie illegal auf ein Konzert im Leningrader Rockclub und geriet ins Visier des KGB. Und in den USA weckten später ihre häufigen Reisen in die Sowjetunion das Interesse des FBI. Joanna stellte klar, dass sie nur ein Ziel verfolgte – Sie wollte ihre russischen Freunde im Westen bekannt machen. 1986 veröffentlichte sie das Album „Red Wave“, auf dem Lieder von vier Rockbands aus Leningrad gesammelt sind: Kino, Alisa, Aquarium und Strannie Igri („Merkwürdige Spiele“). Das Projekt wurde selbstverständlich geheim durchgeführt. Sogar Michail Gorbatschow und Ronald Reagan, die damaligen Machthaber der UdSSR und der USA, erhielten von Joanna eine Kopie von Red Wave. Die Platte wurde so beliebt, dass sie auf dem Schwarzmarkt schon nach ein paar Wochen für $200 verkauft wurde.
Nach dem erfolgreichen Release von Red Wave wurden viele Mitglieder des Leningrader Rockklubs auch in der Sowjetunion berühmt – Bands wie Kino, Aquarium, DDT, Alisa oder Zoopark durften offiziell auf den großen Bühnen auftreten und wurden im Fernseher gezeigt. Ab jetzt sind sie „legal“. Das Lied „Peremen!“ von Viktor Tsoy wird zur inoffiziellen Hymne der Perestrojka. Auch in den letzten Jahren hört man das Lied immer und immer öfter.
Boris Grebenschtschikov, Viktor Tsoy und Co. hatten Glück, dass ihre Musik das warme kalifornische Herz von Joanna gebrochen hatte. Doch nicht alle Musiker der Rockszene hatten eine Chance, an solche Kontakte zu kommen. Es gab viele Bands, die meistens nur lokal in der Stadt oder sogar innerhalb eines Stadtviertels bekannt waren und die nie mit großem Erfolg rechnen konnten. Das lag nicht unbedingt an mangelndem Potenzial oder Talent, denn manchen gelang der Durchbruch doch. Eine meiner Lieblingsbands der sowjetischen Epoche ist Jugo-Zapad („Süd-West“), die aus meinem Nachbarkiez stammt. Die Band existierte nur drei Jahre (1988 bis 1991). Aber sie konnte auf einem Festival auf einer der größten Bühnen Sankt Petersburgs auftreten, dem Sportpalast Jubilejnij, wie das folgende Video zeigt:
Die Kirsche auf der Torte war für sie ein Konzert in Amsterdam. Im Anschluss hörten Punks aus dem fernen Randgebiet der Kulturhauptstadt auf, gemeinsam zu musizieren. Igor Frolow, der Mitgründer der Band, zog nach Finnland um, wo er auch heute noch lebt. Er besucht seine Heimatstadt nur noch sporadisch.
Ein anderer Leningrader, Andrej „Swinja“ (Schwein) Panow, wird von einigen Forschern als erster sowjetischer Punk angesehen. Doch er selbst bezeichnete sich und seine Gefährten als Idioten. Schon in der Schule hatte er Probleme, weil er der Sohn eines vermeintlichen Volksfeindes war – 1973 wanderte sein Vater nach Israel aus. Ähnlich wie die Auswanderung aus der DDR nach Westendeutschland galt das in der UdSSR als Volksverrat. Abgesehen davon waren Juden in der Sowjetunion grundsätzlich nicht beliebt. Gerüchten zufolge schrieb Swinja einige Jahre später in seinem Pass neben das Wort „Russe“ „stimmt nicht, ich bin Jude“ (im sowjetischen Pass gab es die Spalte „Nationalität“).
„Das schlimmste für mich wäre, wenn ich zwei Dinge nicht mehr tun könnte – saufen und singen“, – so Swinja. Neben Alkoholprobleme hatte er wegen seines provokativen Auftretens häufig Probleme mit der Polizei. So konnte es beispielsweise vorkommen, dass er auf der Bühne komplett nackt auftrat oder dass er mitten auf der Straße die Hose auszog und sein Geschäft verrichtete.
Leningrad war für viele Rockmusiker in den 80er Jahren das Rom der Sowjetunion – dorthin führten alle Wege. „Sankt Petersburg ist die einzige Stadt in der UdSSR, wo die Band „Grazhdanskaja Oborona“ normal leben kann“ sagte Arkadij Klimkin, der ehemalige Trommler einer der bekanntesten sibirischen Punk-Bands, in einem Interview. Normal zu leben bedeutete zumindest nicht ständig von Gopniki (russ. umgangssprachlich „Prolls“) geschlagen zu werden, sobald man das Haus verließ. Aber auch wenn die Stadt für viele attraktiv war, wurden die Künstler des Leningrader Rockclubs nicht immer als Kollegen und Gesinnungsgenossen angesehen.
Russische Rockmusik aus Sibirien
Das Leben in Sibirien war nicht so einfach und gemütlich wie in Leningrad oder Moskau, was sich auch auf die dortige Szene auswirkte. Die Musik und Texte klangen viel härter als bei den Neoromantikern und intelligenten Freidenkern aus Petersburger Familien. In Sibirien ging es um Protest gegen die Realität in und mit der sie lebten. Dort gab es drei Zentren der Punkkultur: Nowosibirsk, Tjumen und Omsk. Eine der Hauptfiguren war Jegor Letow aus Omsk, dessen Name einem auch heute als erster in den Sinn kommt, wenn man an russischen Punk denkt.
Am 8. November 1984 gründete Jegor zusammen mit Konstantin „Kuzja UO“ Rjabinow die Band „Grazhdanskaja Oborona“ (Zivilverteidigung). Schon ein paar Monate später wurden alle Musiker, die etwas mit der Band zu tun hatten, vom KGB erpresst: Die meisten mussten unterschreiben, nicht mehr mit Jegor zusammenzuarbeiten. Kuzja UO wurde trotz einer Herzinsuffizienz innerhalb von einem Tag nach Baikonur zur Armee geschickt und Jegor landete in einer psychiatrischen Klinik. Die Zeit, die er dort verbrachte, bezeichnet er später als die schwierigste seines Lebens. Doch er hat es überlebt und brachte zwischen Mai und Juni 1987 mit noch mehr Wut auf die sowjetischen Führer gleich fünf Alben heraus. Das Ganze machte er alleine in seiner Wohnung: Kuzja war zu diesem Zeitpunkt immer noch in der Armee und alle anderen hatten Angst, mit Jegor zusammenzuarbeiten.
Im selben Jahr trat Jegor auf einem Festival in Nowosibirsk auf und bekam danach wieder Probleme. Nach dem planmäßigen Kontrolltermin in der Psychiatrie wurde ihm klar, dass er gleich wieder eingesperrt werden würde und floh. Zusammen mit seiner Gefährtin, der Nowosibirsker Rocksängerin Jana „Janka“ Djagilewa, verließ Jegor seine Heimatstadt Omsk und verbrachte einige Monate in allen möglichen Ecken der Sowjetunion mit ihr. Als er Anfang 1988 zurückkehrte, änderte sich die Lage – Dissidenten wie er standen nun nicht mehr so stark wie früher im Fokus der Machthaber. Perestrojka und Liberalisierung liefen auf Hochtouren.
Solange die freie Kunst in der UdSSR verboten war, waren die Musiker gezwungen, in Kellern zusammenzukommen. Im Laufe der Perestrojka konnten sie langsam aus der Dunkelheit ins Licht treten. So wurden manche unionsweit berühmt, andere blieben weiterhin unter der Erde. 1990 trat Jegor Letow auf dem Gedächtniskonzert in Erinnerung an Aleksandr Baschlachew (ein bekannter Rock-Musiker aus Tscherepowez, gestorben 1988) auf und äußerte sich sehr kritisch gegenüber den Künstlern aus Moskau und Leningrad – Jegor war der Meinung, sie habe die einheimische Rock-Szene zu Pop gemacht und somit vernichtet. Sein Kampf sollte nie aufhören.
„Auf der Suche nach einem Sujet für ein neues Lied“
Zitat aus einem Lied von „Kino“
Anfang der 90er Jahren brach in Russland ein neues Zeitalter an: Das ewige sowjetische Reich war doch zusammengebrochen. Der Russki Rock verlor drei wichtige Figuren – 1990 kommt Viktor Tsoy ums Leben, 1991 sterben Janka und Maik (Michail „Maik“ Naumenko, Leader der Leningrader Band Zoopark). Für viele stellte sich die Frage – Was nun? Jegor Letow und sein Mitkämpfer aus Tjumen, Roman Neumoew, der Gründer von Instrukcija po Wizhiwaniju („Anleitung zum Überleben“), machten aus verschiedenen Gründen ein paar Jahre Pause.
Der Leningrader Rockclub schloss seine Türen, solche Organisationen wurden nicht mehr benötigt. Zum einen weil die Künstler ihr Publikum auf anderen Bühnen gefunden hatten, zum anderen weil es keine Kontrolle von oben mehr gab – jeder durfte singen, was auch immer sie wollten. 1991 eröffnete der Klub Tamtam, der schnell zum wichtigsten Ort für die Petersburger Undergroundszene wurde. Aber nicht jeder passte hierhin, man wollte einen Club frei von Gownorock („Scheißrock“) schaffen. Das Publikum war bunt gemischt – Punks, Skinheads, Freaks und Junkies. Das führte oft zu Eskalationen – Schlägereien waren an der Tagesordnung.
Außerdem erschienen neue Gesichter, weil – wie man in Russland sagt – ein heiliger Ort niemals leer bleibt. Kasachstan 1992: Jermen „Anti“ Jerzhanow gründet in Aktjubinsk (seit 1999 Aktobe) die Band Adaptacija. Viele haben damals versucht – und versuchen es auch heute – die Stilistik von Jegor Letow nachzumachen. Obwohl Jermen auch von Letow und Baschlachew inspiriert war, entwickelte er seinen eigenen Stil – Jermen ist ein Punk-Dichter (wie er sich selbst bezeichnet). Die meisten Konzertbesucher in den 90er Jahren waren Studenten und Schüler, Arbeiter und Arbeitslose – doch Underground war nie die Musik der Celebrities.
Ende 1993 kam Jegor Letow mit dem neuem Projekt „der Russische Aufbruch“ zurück auf die Bühne. Der Grund: Jegor hatte einen neuen Feind – Boris Jeltsin. Das Projekt wurde zusammen mit Roman Neumoew, Oleg Sudakow, anderen Musikern und dem Gründer der Nationalbolschewistischen Partei Russlands vorangetrieben, Eduard Limonow. Im Rahmen des Projektes wurden eine Reihe von Konzerten in Moskau, Sankt Petersburg, Tjumen, Nowosibirsk, Rostow am Don, Saratow, Twer, Kiew und Lugansk aufgeführt.
Ähnlich wie in den 80er Jahren stand die Undergroundszene nun nicht nur dem Musikmainstream, sondern auch dem politischen Mainstream gegenüber. Jegor, der früher sang „Ich hasse rote Farbe, vernichte Menschen wie mich“ (als Vorwurf gegen einen KGB-Agenten) sagt jetzt zu Limonow: „Mehr Rot, Eduard, mehr Rot!“
Der Nationalbolschewismus war damals für viele (vor allem für jüngere Generationen) die einzige denkbare Alternative zu Jeltsin. Limonow unternahm den Versuch, linke und rechte Ideen unter einen Hut zu bringen. Das führte oft zu inneren Widersprüchen. Mitglieder der NBP (Nationalbolschewistische Partei) waren Anfang der 2000er oft auf Rockkonzerten präsent. Bei manchen von ihnen war auch Adaptacija beliebt: Sie mochten die Lieder von Jermen und begrüßten seinen Internationalismus. Andere wiederum lehnten ihn aus demselben Grund und aufgrund seiner kasachischen Herkunft ab.
Noch facettenreicher ist die Figur Jegor Letow: Für einige war er zu links, andere warfen ihm Faschismus und Antisemitismus vor; manche fanden ihn zu hartnäckig oder ganz im Gegenteil zu schwankend in seinen Überzeugungen; zu asozial und zu radikal; zu philosophisch und schwer zu verstehen, zu primitiv und flach. Manche mochten ihn nicht, weil er Mitglied der NBP war oder weil er sich von der Idee des Nationalbolschewismus gelöst hat und die letzten Jahre seines Lebens unpolitisch war. Das alles war ihm wahrscheinlich egal.
„Rock-’n’-Roll ist tot, ich noch nicht“
Liedtext von „Aquarium“
Es ist an der Zeit, ein paar Wörter über die russische Hauptstadt zu schreiben. Viele Russen nehmen Moskau als einen separaten Staat wahr, weil sich das dortige Leben stark vom Leben im restlichen Land unterscheidet. In Moskau selbst gibt es einen Witz: „Außerhalb vom Moskauer Ring existiert kein Leben, es gibt nur noch Petersburg, wo es nass und wehmütig ist“. Moskau war (und ist) eine wichtige Quelle für die Szene – große und moderne Veranstaltungsstätten, ein reiche(re)s Publikum, eine große Auswahl an Musikinstrumenten und Aufzeichnungen, die es in keiner anderen Stadt gibt, prägen die Metropole. Aber die russische Hauptstadt ist eigentlich nicht für eine eigene namhafte Underground-Szene bekannt. Trotzdem wäre es falsch zu behaupten, dass es keinen Moskauer Underground gibt – in Moskau gibt es alles.
Doch was ist eigentlich Underground? Dieses Wort wurde hier so oft benutzt, ohne eine Definition zu geben. Nach welchen Kriterien würde zum Beispiel eine deutsche Behörde entscheiden, was Underground genannt werden darf und was nicht? Da es keine Testvorgänge, Urkunden oder Zeugnisse gibt, die die Zugehörigkeit zum Underground beweisen, würden Behörden mit solch einer Aufgabe überfordert sein. „Zu Underground gehören die, die nicht ins Fernsehen wollen“, „Underground endet dort, wo die Öffentlichkeit anfängt“, „es gibt erzwungenen Underground und Underground aus Prinzip“ – das sind die Meinungen einiger Künstler, die man üblicherweise dem Underground zurechnet. Ich würde es ergänzen und Underground als Antonym des Mainstream bezeichnen. Um den Unterschied deutlich zu machen, will ich euch zwei Beispiele aus dem Moskauer Musikleben vorstellen.
„Formation“ – dieser Begriff stammt von Boris Usow, dem Frontman der Moskauer Band „Solomennie Enoti“ („Strohige Waschbären“) und wird für die Bezeichnung der unabhängigen Musiker Moskaus genutzt. Er ist kein Alternativbegriff für die Underground-Szene, weil es keine richtige Szene gibt. Es geht eher um einzelnen Personen, um die sich relativ kleine – ca. 30 bis 40 Menschen zählendende –, aber feste Fan- und Freundeskreise bilden. Konzerte finden deswegen meistens in kleinen Klubs oder in Privatwohnungen statt – die sogenannten „Kwartirniki“, die schon seit den 70er und 80er Jahren bekannt sind. Jetzt fanden die Konzerte aber deshalb hier statt, weil es einfach von der Größe her gepasst hat.
Konzerte fanden auch im Bunker der Nationalbolschewistischen Partei statt. Ilja „Santim“ Malaschenkow, dessen Band „Banda Chetyrjokh“ (Viererbande) in den 90er Jahren auch am „Russischen Aufbruch“ teilgenommen hatte, war ein aktives Mitglied dieser Partei. Ich möchte betonen, dass keiner der hier benannten Künstler etwas mit dem in Deutschland bekannten Rechtsrock zu tun hat (den gibt es in Russland auch, aber in sehr marginalen Formen). Die damalige Affinität der Musiker zu Politik muss man im Kontext der Zeit betrachten. Die 90er Jahre in Russland waren Zeiten der sogenannten rot-braunen Ideen – ein Spektrum, das vom Kommunismus bis zum Faschismus reichte.
In den Songtexten der 90er Jahren spiegelten sich oft politische Ideen wider, gegen die sich manche Autoren einige Jahre später aktiv stäubten. Sie waren nichts anderes als ein Versuch, gegen die Realität zu protestieren. Konzertbesucher von Grazhdanskaja Oborona meinten, es sei ihnen egal, ob die Band Faschisten oder Kommunisten sind – das Wichtigste war, dass sie die gleichen Emotionen ausdrückten, die sie auch hatten. Kein Musiker, über den es in diesem Text bisher ging, wurde wohlgemerkt nach der Wende aufgrund seiner Taten oder Aussagen in Russland verfolgt oder vor Gericht verurteilt.
Neben Boris Usow und Santim gab es auch andere Namen, die erwähnenswert sind: Walentin „Jack“ Sokharew (von der Band „Medwed Schatun“, „Schlafloser Bär), Julia Teunikowa, Alexander „Bogus“ Bogomolow und natürlich der im Jahr 2009 verstorbene Pawel „Kleschtsch“ Klischtschenko. Es gibt definitiv noch weitere, die aber noch tiefer unter dem Eis liegen.
Ende der 90er Jahre entstand in Russland der Begriff „Rockapops“, mit dem man den damaligen russischen Rockmainstream gut beschreiben kann. Politik, Soziales, Protest – diese Themen waren nun nicht mehr aktuell. Der Fokus wurde auf neue Musikformen und Richtungen gelegt. Viele Bands waren von westlichen Künstlern inspiriert und kopierten teilweise deren Melodien. Das war auch früher in der russische Rockmusik schon vorgekommen.
Neben der Möglichkeit, regelmäßig Konzerte zu geben und Alben massenhaft auf CDs zu produzieren, wurde im Dezember 1998 mit der Unterstützung des russischen Oligarchen Boris Berezowskij „Nasche Radio“ („Unser Radio“) gegründet. Der Gründer Michail Kozirew wollte einen Sender schaffen, auf dem ausschließlich russische Musik gespielt wurde, darunter auch nicht im vom „Russkoe Radio“ („Russisches Radio“) angebotenen Format, denn dort sind nur Poplieder und Schlager zu hören. Michail entschied selbst, wen er als Künstler haben wollte. Jegor Letow hatte auf Nasche Radio für lange Zeit Hausverbot wegen einer Zeile in einem alten Lied.
Seit 1999 organisiert „Nasche Radio“ das Festival „Naschestwie“ („Invasion“), das nun jährlich durchgeführt wird und zum größten Rockfestival Russland geworden ist. Ein eigenes Festival hat(te) auch der Rock-Underground: 2001–2008 und 2015–2017 fand im kasachischen Aktobe „Sukhovej“ („Wüstenwind“) statt. Während Naschestwie 2015 von 200.000 Menschen besucht wurde, waren es bei Sukhovej nur ca. 200 Menschen im selben Jahr.
Man kann lange diskutieren, ob die Qualität der Musik aufgrund der Zahl der Konzertbesucher, der verkauften CDs oder der gestiegenen Umsätzen bestimmt werden kann. Ganz subjektiv betrachtet ist alles letztlich eine Frage des Geschmacks. Suum cuique. Auch in der Kinowelt mögen manche Till Schweiger und manche Rainer Werner Fassbinder. Einige sogar beide.
„Breit berühmt in engen Kreisen“
Russische Redewendung
Egal ob Mainstream oder Underground – Tourneen sind ein wichtiger Teil des Musiklebens. Nicht nur Rockstars, sondern auch relativ unbekannte Künstler können weit außerhalb ihrer Heimat(städte) bekannt sein, allerdings in viel engeren Kreisen. 1999 trat Grazhdanskaja Oborona mit ihrem ersten ausländischen Konzert in New York auf.
Ab 2000 gab Jegor Letow allein oder mit der Band insgesamt fünf Klubkonzerte in Berlin, Nürnberg und München und spielte außerdem in Kalifornien, Israel und Norwegen. Bis zu seinem Tod im Februar 2008 nutzte Jegor jede Gelegenheit, um Konzerte zu geben.
2002 traten Jermen und Denis Tretjakow, der Gründer der Band „Tserkow Detstwa“ („Kirche der Kindheit“) aus Rostow am Don zum ersten Mal in Deutschland auf. Das freie und kosmopolitische Berlin, das für seine eigene Underground-Szene bekannt ist, zog auch die russischen Underground-Künstler an. Viele traten gerne in der deutschen Hauptstadt auf, obwohl das mit verschiedenen Schwierigkeiten verbunden war. Abgesehen von finanziellen Fragen war es nicht für jeden leicht, ein Visum zu bekommen, vor allem für den Kasachen Jermen. Trotz aller Umständen spielten Jermen und Adaptacija außer in Deutschland auch mehrmals in Frankreich, Spanien, Finnland und in der Schweiz.
Im Winter 2019 spielte Denis Tretjakow zusammen mit Kristof Hahn, dem in Berlin lebenden Gitarristen der US-amerikanischen Rockgruppe Swans, sein bis dato letztes Konzert auf der Bühne des Berliner Klubs Hangar 49. Hoffentlich kommt Denis wieder, der legendäre Hangar ist leider seit letztem Jahr geschlossen. Ausnahmsweise nicht wegen der Corona-Pandemie.
Ebenfalls in Deutschland bekannt ist der russische Prosaschriftsteller Michail Jelisarow, der zwischen 2001 und 2007 in Hannover und Berlin studierte und arbeitete. Obwohl Michail in erster Linie als Schriftsteller bekannt ist, ist er auch als Musiker aktiv. Seine Lieder bezeichnet er selbst als „Bard-Punk-Chanson“. Fast jeden Monat spielt Michail in kleinen Klubs in Moskau und Sankt Petersburg, für ca. 150 Besucher. Eine stolze Zahl für Solokonzerte eines Underground-Künstlers.
Seit Mitte der 2000er reist noch ein weiterer russischer Rock-Barde, der mit Kristof Hahn zusammengearbeitet hat, allein mit seiner Gitarre durchs Land: Branimir (Alexandr Parschikow).
„Das was ich tue, ist Dark-Folk der russischen Provinz: eine Apokalypse unseres Reiches “ – so Branimir.
Doch nicht alle Musiker sind so aktiv. Der sibirische Musiker Aleksandr „Agnijar“ Podorozhnij verbringt sein Leben im Altei-Gebirge und gibt kaum Konzerte. „Russisch-Sibirische mystisch-schamanische Rock-Akustik“ – so definiert er seine Musik. Ich hatte das Glück, Agnijar auf dem Gedächtnisfestival von Janka 2014 in Nowosibirsk gesehen zu haben:
Ob wir wollen oder nicht, das Internet spielt eine immer größere Rolle in unserem Leben und ist neben den „klassischen“ Konzerten zum wichtigen Kommunikationskanal geworden. 2013 wird Konstantin „Stupa“ Stupin, der sogenannte „letzte Punk Russlands“, aus dem Gefängnis entlassen. Nach einem erfolgslosen Versuch, seine alte Band „Nochnaja Trost“ („Nächtlicher Stock“) zu reanimieren, setzt er seine Musikkarriere allein fort. Mithilfe von Youtube und ein paar engagierten Fans wird er innerhalb von wenigen Monaten landesweit bekannt.
Stupa hatte eine typische Punkjugend und bekam nicht nur mehrere Jahre Knast aufgebrummt, sondern auch alle möglichen Krankheiten. Der letzte Punk Russlands starb 2017, 19 Jahre nach dem Tod des ersten sowjetischen Punks Swinja.
„Die Zeit der Gedichte ist vorbei“
Das letzte Lied auf dem im Jahr 2019 erschienenem letzten Album von „Adaptacija“ trägt den Titel „Die Zeit der Gedichte ist vorbei“. Nach 27 Jahren löste Jermen seine Band auf und setzte nach einer kurzen Pause seine Karriere allein fort.
Die letzten Konzerte von Adaptacija waren eine Granate: Noch nie seit 2005 habe ich so viele Besucher auf dem Konzert einer Underground-Band gesehen wie in Moskau. Doch Jermen hat Recht – die Zeit der Gedichte ist tatsächlich vorbei. Die Zeit, aber nicht die Gedichte. Während ich diesen Beitrag schrieb, habe ich mich oft gewundert, wie viele Menschen, über die ich schreibe, schon aus dem Leben gegangen sind. Ihr Erbe aber bleibt bestehen. Es gibt in Russland zwei Labels – Wyrgorod und Maschina Records – die alte Aufnahmen restaurieren und neue veröffentlichen, die bisher noch nicht erschienen sind. 2018 wurde in Nowosibirsk das Museum des Sibirischen Punk-Rocks gegründet, das vor Kurzem nach Moskau verlegt worden ist.
Es gibt auch jede Menge neuer Bücher über russische Rockmusik, die als Versuch, das Geschehene zu verdauen oder einfach aus nostalgischen Gründen geschrieben wurden. Seit 2014 findet zudem jedes Jahr an der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität in Moskau das Letow Seminar statt. Und auch wenn die Zahl der unnötigen Coverprojekte oder Reunions viele Jahre nach dem Tod der Bandleader steigt und eine neue Generation, die sich für die Gegenkultur interessiert, eher Rap als Gitarrenrock hört, bin ich sehr dankbar, dass es immer noch Einzelkämpfer wie Jermen, Branimir, Mikhail Elisarow, Denis Tretjakow oder Oleg Sudakow gibt, die „afloat“ bleiben und weitermachen. Dafür möchte ich mich herzlich bei ihnen bedanken. Vielen Dank auch an die Künstler für die freundliche Abdruckgenehmigung.