Das Grauen von Auschwitz, die Toten von Buchenwald, die Überlebenden von Dachau – in den Medien sind sie alle bekannt. Der Holocaust in Deutschland und Polen ist gut erforscht. Doch abseits dieser Verbrechen herrscht oft noch eine große Leere und Stille. Dabei ist in vielen anderen Ostblock-Staaten der Holocaust mindestens genauso brutal und mörderisch gewesen. Im Holocaust in der Ukraine allein, starben mehr als 1,5 Millionen Juden. Sie wurden erschossen, erschlagen, verhungerten oder wurden mit Viehwaggons in die deutschen Vernichtungslager in Polen transportiert und vergast. Exemplarisch wollen wir uns als erstes mit dem Holocaust in Lemberg befassen.
Holocaust in der Ukraine – Neue Dimensionen eines Verbrechens
Der Holocaust war mit dem Überfall auf Polen bereits entfesselt worden. In den besetzten Gebieten Polens und anderer Länder wurden Juden bereits verfolgt und ermordet. Doch der Überfall auf die Sowjetunion wirkte wie ein Brandbeschleuniger. Im Zuge der Eroberung der Ukraine zogen Einsatzgruppen von Wehrmacht und SS durch die besetzten Territorien und trieben Juden zusammen. Zunächst wurden sie entrechtet, in Ghettos zusammengepfercht und dann systematisch ermordet. Überall zwischen San und Don wurden Juden Opfer deutschen Kriegsverbrecher und ihrer Helfer.
Holocaust mit Kugeln – Weniger greifbar als Gaskammern
Anders als die Auschwitz, Buchenwald oder Dachau sind diese Mordstätten jedoch bis heute kaum bekannt. Einer der Hauptgründe dafür dürfte sein, dass der sogenannte Holocaust mit Kugeln viel weniger greifbar ist. Die Einsatzgruppen ermordeten die Juden meistens in Waldstücken, Schluchten oder anderen abgelegenen Orten. Die Gruben wurden zugeschüttet, häufig wurden die Leichen verbrannt, die Wertgegenstände und Kleidungsstücke gesammelt und von den Besatzungsbehörden verwertet. An vielen der Orte blieben fast keine Spuren von den Massenmorden.
Lemberg – Jüdisches Viertel so groß wie Heidelberg
Eines der krassesten Beispiele für den Holocaust in der Ukraine ist die Stadt Lemberg, auf Ukrainisch Lwiw, Polnisch Lwow. In Lemberg lebten am Tag des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion schätzungsweise 160.000 Juden. 110.000 lebten im polnischen Lemberg. Durch die Teilung Polens zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion 1939 flohen bereits 50.000 Juden aus den von den Deutschen besetzten Gebieten nach Lemberg. Beim erneuten deutschen Angriff war für viele die Flucht aussichtslos.
Pogrome nach Einmarsch der Deutschen
Bereits beim Einmarsch der Deutschen begannen Pogrome gegen die jüdischen Bewohner der Stadt. Geschäfte wurden zerstört, Wohnungen angezündet, Synagogen geschändet und Juden auf der Straße verfolgt, erniedrigt, geschlagen und getötet. Allein bei diesen Pogromen wurden 4.000 jüdischen Bürger der Stadt ermordet. Kurze Zeit später wurden Juden zur Zwangsarbeit verpflichtet.
Juden werden im Ghetto eingepfercht
Im November 1941 wurde das Ghetto eingerichtet. Innerhalb eines Monats mussten alle Juden dorthin umziehen. Auf dem Weg zu diesem „jüdischen Wohnbezirk“, wurden bereits Tausende Alte und Kranke selektiert und ermordet. Es wurde eine Ausgangssperre verhängt und das Ghetto durften Juden nur mit einem Passierschein für die Zwangsarbeit verlassen. Der Zugang für Nichtjuden war untersagt. Die Bedingen im Ghetto waren unmenschlich. Es herrschte ständiger Hunger und Seuchen machten die Runde. 160.000 Menschen sind in einem Stadtviertel untergebracht das als das Armenviertel der Stadt gilt und zuvor nur einen Bruchteil dessen an Einwohnern hatte. Die SS patroulliert und erschießt mitunter wahllos Passanten.
Selektion und Deportation in Konzentrations- und Vernichtungslager
Nach der Erfassung der Juden im Ghetto verstärkt sich die systematische Ausbeutung und Vernichtung der jüdischen Bürger der Stadt. Es finden regelmäßig Selektionen statt. Arbeitsfähige Juden werden zum Teil auch in das Konzentrationslager Janowska gebracht. Bei Selektionen werden Juden für die Transporte in Vernichtungslager ausgewählt. An bestimmten Tagen werden gehen Güterzüge mit Zehntausenden Menschen in das weniger als 100 Kilometer entfernt gelegene Belzec. Belzec ist auch deshalb nur wenig bekannt, weil es anders als bei Auschwitz nur DREI Überlebende überhaupt bekannt sind. Die Opferzahlen werden auf rund 500.000 geschätzt – unter ihnen auch ein großer Teil der 160.000 Juden von Lemberg.
Konzentrationslager Janowska – Verbrechen mit der Knochenmühle vertuscht
Doch auch aus dem umliegenden Orten wurden Juden nach Lemberg gebracht. Insgesamt sollen mehrere Hunderttausend das Konzentrationslager Lemberg-Janowska durchlaufen haben. Sie wurden von mehreren Rüstungsfirmen vor Ort ausgebeutet. In den Dünen hinter dem Lager fanden regelmäßig Erschießungen statt. Als sowjetischen Truppen auf dem Vormarsch waren und immer weiter in der Ukraine vorrückten, versuchten die Nazis ihre Verbrechen zu vertuschen. Jüdische Zwangsarbeiter mussten die in den Dünen verscharrten Überreste der Opfer ausgraben. Die Leichenteile wurden in eigens dafür konzipierten Maschinen, die man Knochenmühlen nannte, zerkleinert.
Was beinahe unmöglich klingt beschrieb der Holocaustüberlebende Leon Wells in seiner Autobiographie Sohn Hiobs. Er hatte es geschafft aus Lager und Ghetto zu fliehen.
Nur wenige Überlebende beim Einmarsch sowjetischer Truppen
Als die sowjetischen Truppen am 26. Juli 1944 wieder in Lwiw einmarschierten, war von der jüdischen Bevölkerung der Stadt kaum noch jemand am Leben. Es ist unklar, wie viele Juden aus Lemberg den Krieg überlebt haben. Viele waren in Konzentrationslagern weiter im Westen eingesperrt, andere hatten die Stadt vor dem Einmarsch der Deutschen bereits verlassen. In der Stadt selbst sollen von mehr als 160.000 Juden vor dem Krieg nur einige Hundert überlebt haben. Sie hatten sich versteckt oder mit falschen Papieren überlebt.
Eine unter vielen – Debora Vogel
Es gibt so viele Opfer des Holocaust in Lemberg, dass es fast unbegreiflich ist. Eines der Schicksale das mich in meiner Recherche für meine Arbeit als Gästeführer für jüdische Touren in Lemberg aber am meisten berührt hat, ist das Schicksal von Debora Vogel. Geboren in Burschtyn, einer Stadt ca. 90 Kilometer von Lemberg entfernt, zog ihre Familie nach dem Ersten Weltkrieg nach Lwiw. Hier ging sie zur Schule, machte Abitur und studierte an der Universität.
Sie hatte ein breites Wissen über die Literatur und Kultur ihrer Zeit und war in Zirkeln polnischer Avantgarde-Künstler vertreten. Sie war zudem eine gute Freundin des Drohobytscher Schriftstellers Bruno Schulz. Debora Vogel schrieb Lyrik auf Jiddisch. Eigentlich war Polnisch ihre Muttersprache, doch sie wählte Jiddisch vermutlich auch, weil sie Zionistin war. Ihre Gedichte beinflussten auch das Werk von Bruno Schulz und inspirierten ihn zu seinem Roman Die Zimtläden.
Vogel wurde zusammen mit ihrer Familie im Ghetto Lemberg eingesperrt und dort ausgebeutet. Bei einer Selektion im August 1942 wurde sie zusammen mit ihrem Mann, dem Architekten Szulim Barenblüth, ihrer Mutter und ihrem fünfjährigen Sohn Aszer als eine von vielen Tausend im Ghetto erschossen. Nach dem Krieg geriet ihr Werk weitestgehend in Vergessenheit. Mittlerweile gab es aber eine Veröffentlichung einiger ihrer Werke auf Deutsch im Buch Die Geometrie des Verzichts.
Erinnerungskultur in der Sowjetunion – Ein Herz nur für Kommunisten?
Mit der Niederlage Nazideutschlands wurde auch die Karte Europas neugeordnet. Nicht nur Deutschland verlor Gebiete. Auch die Territorien Polens die östlich des Sans lagen, wurden von der Sowjetunion annektiert und der Ukrainischen SSR angegliedert. Polnische Bürger, darunter auch die polnischsprachigen Juden wurden vertrieben. Auch das Gedanken an die Opfer wurde durch die Lage der meisten Mordstätten auf dem Gebiet der Sowjetunion nach 1945 nicht einfacher. Die Erinnerungspolitik der Sowjets erlaubte kein besonderes Gedenken an Juden. Gedacht wurde meist vor allem ermordeter Sowjetbürger, Kriegsgefangener oder Partisanen. An vielen Gedenkorten der jüdischen Opfer fanden sich bis zum Ende der Sowjetunion keine Mahnmale oder Gedenktafeln. Erst langsam wird das Gedenken wieder wacher und mehr und mehr Menschen interessieren sich für das Thema.
Stolpersteine um eine ganze Straße zu pflastern
Doch es gibt ein weiteres Problem. Wie kann dieses massenhaften Mordes überhaupt angemessen gedacht werden? Ich finde die Aktion der Stolpersteine eine schöne Form des Gedenkens, um auch an die einzelnen Opfer des Holocaustes mit Namen zu erinnern. Aber nehmen wir einmal das Beispiel von Lemberg. Bei der Größe der Stolpersteine und in Anbetracht der Zahl der jüdischen Opfer des Holocaust in Lemberg könnte man in Lwiw eine Straße von fast einem Kilometer Länge damit pflastern. Das wäre länger als die frühere Judengasse in der Altstadt.
Erinnerungsorte an den Holocaust in Lemberg
Immerhin gibt es aber Gedenkorte, die auf den Holocaust in Lemberg aufmerksam machen und die an das Schicksal der Juden der Stadt erinnern.
Ruine der Synagoge Goldenen Rose
Der bekannteste und sichtbarste Gedenkort für den Holocaust in Lemberg ist die Ruine der Goldenen-Rosen-Synagoge. Die Goldene Rose war die bekannteste Synagoge der Stadt. Bedeutende Rabbiner lehrten hier und verhalfen der Stadt zu einem guten Ruf in der aschkenasischen Welt. Die Synagoge im alten jüdischen Viertel der Stadt war umgeben von weiteren jüdischen Gebäuden – der großen Zentralsynagoge und einer Synagoge für Talmudstudien. Heute sind nur noch ein paar Mauern erkennbar. Seit 2016 erinnert ein Mahnmal an die von den Nazis zerstörte Synagoge. Hier sind auch Zitate von jüdischen Opfern und Überlebenden des Holocaust auf Steinen verewigt. Sie erinnern auch an die zerstörten jüdischen Friedhöfe der Stadt.
Jakob-Glanzer-Schul
Die Glanzer Schul (Vuhilna-Straße) ist eine von zwei Synagogen die den Krieg überdauert haben und noch als jüdische Einrichtungen genutzt werden. Im hiesigen Kulturzentrum gibt es eine Ausstellung über die zerstörten Synagogen von Lemberg, es finden Veranstaltungen statt und es wird über die Geschichte des Hauses informiert. Die Freiwilligen um Sascha Nazar kümmern sich auch um dieErhaltung des jüdischen Erbes im Umland.
Ghetto-Mahnmal
Das Ghetto-Mahnmal (siehe Cover-Bild) erinnert an die Juden, die im Ghetto Lemberg gelitten haben und ermordet wurden. Das Mahnmal wurde 1992 errichtet und von der Lemberger Holocaustüberlebenden Luisa Scherenstein gestaltet. Hier finden auch jedes Jahr Kranzniederlegungen statt, die an das Schicksal der Ghetto-Juden erinnern.
Mahnmal am Konzentrationslager Lemberg-Janowska
Auch auf dem Gelände des früheren Konzentrationslager Janowska befindet sich mittlerweile ein Mahnmal für die Opfer des KZ. Leider fehlt bis heute, also auch 77 Jahre nach der Befreiung Hinweisschilder oder eine Gestaltung des Geländes als Holocaust-Gedenkstätte. Teil des Problems ist, dass Teilflächen des früheren Lagers bis heute von einem Gefängnis bebaut sind und weiterhin genutzt werden. Zumindest in den Sandgruben, die zugänglich sind, sollte es jedoch Hinweisschilder geben.
Territory of Terror Museum
Das Museum Territory of Terror steht auf dem Gelände eines NKWD-Durchgangslagers, von dem aus Gefangene in sowjetische Gulags transportiert wurden. Das Museum behandelt die Opfer totalitärer Gewaltherrschaft also sowohl des Nationalsozialismus wie auch des Kommunismus. Das Team an jungen Forschern stellt Ausstellungen rund um den Holocaust in Lemberg zusammen und informiert zum Beispiel auch über das Konzentrationslager Janowska.
Bücher zum Holocaust in Lemberg und der Ukraine
Das Thema des Holocaustes in Lemberg in der Ukraine ist in den vergangenen Jahren weiter in den Fokus gerückt und es gibt sehr interessante Bücher von unterstützenswerten Autoren zum Thema.
Rückkehr nach Lemberg
Der britische Autor Philippe Sands beschreibt in seinem Buch Rückkehr nach Lemberg*, wie die beiden Lemberger Raphael Lemkin und Hersch Lauterpacht die Begriffe „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Genozid“ prägen. Er zeichnet gleichzeitig ein bewegendes Porträt von Lemberg zur Zeit des Zweiten Weltkriegs und der beiden Protagonisten, die eine höchst unterschiedliche Entwicklung durchmachten.
Lemberg: Die vergessene Mitte Europas
Lemberg: Die vergessene Mitte Europas* lautet der Titel dieses Buches von Lutz C. Klevemann. Der deutsche Journalist setzt der Stadt ein dokumentarisches Denkmal und beschreibt auf eindrucksvolle Weise die traurige Geschichte der Stadt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ein Buch, nach dessen Lektüre man Lemberg mit anderen Augen sieht!
Die Juden in Lemberg während des Zweiten Weltkriegs und im Holocaust 1939-1944
Der Historiker Eliyahu Yones beschreibt den Verlauf des Holocaustes mit der Einrichtung des Lemberger Ghettos hin zu den Deportationen und auch mit Bezug zum Konzentrationslager Lemberg-Janowska.
- Yones, Eliyahu(Autor)
Mehr zum Thema online
Es gibt tolle Initiativen, die sich um die Erforschung des Themas kümmern. Besonders hervorhebenswert sind:
- Vanished World Blog – Christian Herrmann veröffentlicht auf seinem Blog Fotos seiner Reisen durch die vom Holocaust betroffenen Länder und zeigt die verschwindenden Spuren der jüdischen Vergangenheit der Region auf.
- Lviv Center for Urban Studies – Das Lviv Center kümmert sich um die Erforschung des urbanen Raumes und hat auch viel zur Erhaltung und Erforschung des jüdischen Lembergs beigetragen. Ein Besuch der Seite zeigt die verschiedenen Erinnerungsprojekte.
Für die Erhaltung der jüdischen Kultur spenden
Es gibt einige Initiativen, die für den Erhalt jüdischer Stätten Spenden sammeln. Ich bewundere aber besonders die Arbeit von Sascha Nazar, der sich unter anderem um die Erhaltung der Jakub-Glanzer-Schul kümmert. Spendenwillige können ihn gern unter nazzzalex1[at]gmail.com kontaktieren.
Verantwortlich fuer das Lemberger Ghetto war lt. Wikipedia Joachim Freiherr von der Leyen. Auch das ist in der Oeffentlichkeit weitgehend unbekannt. Nach meinen Recherchen gibt es keinen Hinweis darauf, dass diese Familie, deren Name in der EU an exponierter Stelle steht, sich mit ihren Verstrickungen in das Nazi-Regime auseinandergesetzt hat.
Walter Tromp
Lieber Herr Tromp,
der Hinweis ist berechtigt, der zivile Statthalter von Lemberg hieß Joachim Freiherr von der Leyen. Allerdings konnte ich bisher keine Hinweise darauf finden, dass er ein unmittelbarer Verwandter des Mannes von Ursula von der Leyen ist. Zudem ist Ursula von der Leyen eine geborene Albrecht und ist daher selbst nicht direkt mit Joachim verwandt. Dieser starb übrigens auch bereits 1945.
Beste Grüße,
PA