Meine Faustregel lautet: Wer ein Land nicht nur oberflächlich kennenlernen, sondern wirklich entdecken will, der muss neben der Hauptstadt mindestens drei weitere Orte gesehen haben. Am besten die, die nicht in jedem Reiseführer gleich auf der ersten Seite stehen – denn Deutschland, das sind nicht nur das Brandenburger Tor und das Oktoberfest, die USA hat neben New York und Kalifornien noch 48 weiteren Bundesstaaten zu bieten usw. Bei Polen ist das nicht anders. Auch hier kennen viele bloß Warschau, Krakau und vielleicht noch Danzig oder Breslau.
Wusstet ihr z.B., dass der Augustów-Kanal, die wichtigste Wasserstraße im Nordosten Polens, dieses Jahr sein 200-jähriges Bestehen feiert? Die Suwałki-Seenplatte in der Region Podlaskie, in der sich der Kanal befindet, zieht jeden Sommer mehrere Hunderttausende Besucher aus ganz Europa an, für die Polen nicht gleich in Warschau beginnt und endet. Nicht zuletzt spielt ein hervorragendes gastronomisches Angebot in der Region eine große Rolle – auch hier hat die polnische Küche viel mehr zu bieten, als die weltweit bekannten, guten alten Pierogi. Aber dazu kommen wir noch.
Die Suwałki-Seenplatte hat also viel zu bieten. Die Region ist am besten über das Nachbarland Litauen erreichbar, was man mit einem Besuch von Klaipėda verknüpfen kann. Gute Verkehrsanbindungen gibt es aber auch von der polnischen Hauptstadt.
Augustów
Augustów ist eine kleine idyllische Stadt mit rund 30.000 Einwohnern, die an der ehemaligen Grenze zwischen Polen und Litauen liegt. Die Stadt ist vor allem dank des Augustów-Kanals bekannt, der im 19. Jahrhundert von großer Bedeutung war. Die Stadt Augustów und ihre Umgebung bieten diverse Möglichkeiten, die Natur in aller Ruhe zu genießen.
Augustowskie noce (Augustów-Nächte)
Das hat auch Künstler aus anderen Teilen Polens herangezogen und inspiriert: so schrieb Maria Koterbska im Jahr 1966 das Lied “Augustowskie noce“.
Um das Lied zu hören, fährt man am besten zum Necko-See, der sich im nördlichen Teil der Stadt befindet. Dort steht ein Denkmal – die Statue einer tanzenden Frau, die sich dreht, während das Lied abgespielt wird. Dieser Ort liegt neben dem Hotel Warszawa (ul. Zdrojowa 1), das sehr zu empfehlen ist. Neben einem schönen Seeblick verfügt es auch über einen SPA-Bereich mit Schwimmbad und Sauna.
Museum des Augustów-Kanals
Im Stadtzentrum, ca. 20 Gehminuten vom Hotel entfernt, befindet sich das Museum des Augustow-Kanals (ul. 29 Listopada 5a). Bevor man den Kanal besucht, ist eine Tour durch das Museums auf alle Fälle lohnenswert. Es erzählt die Geschichte des Kanals und zeigt, wie und von wem er gebaut wurde. Die Planung des Kanals begann im Jahr 1823, nachdem Zar Alexander der Erste den Bau genehmigt hatte. Insgesamt gab es drei Entwürfe – man entschied sich für den mit der kürzesten Strecke. Der Kanal ist 101,2 km lang und liegt auf dem Territorium von zwei Ländern – Polen und Belarus.
Der Augustów-Kanal
Im Jahr 1839 waren alle Bauarbeiten beendet. Ca. 7000 Menschen waren an den Projekt beteiligt. Ursprünglich wurde der Kanal für den Transport von Gütern genutzt, vor allem für Holz. Zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg war die Holzproduktion der wichtigste Wirtschaftszweig in der Region – polnisches Holz wurde sogar nach Afrika geliefert. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges wird der Kanal nur noch für touristische Zwecke benutzt.
Der Kanal hat insgesamt 18 Schleusen – 14 in Polen, 3 in Belarus und 1 direkt an der Grenze zwischen Polen und Belarus. Allerdings ist der Grenzübergang seit der COVID-Pandemie geschlossen. Ein Teil des Augustów-Kanals in Belarus war während des Zweiten Weltkrieges zerstört worden und wurde erst Mitte der 2000er-Jahre wiederhergestellt.
Mit dem Kayak auf dem Kanal
Eine Paddeltour ist das, was man in Augustów und auf den zahlreichen Flüssen der Suwałki-Seenplatte nicht verpassen darf. Ein Kayak für 1 bis 3 Personen sowie jegliche Ausrüstung lassen sich direkt in der Stadt mieten, z.B. bei SZOT (ul. Konwailowa 2). Eine entspannte 10 Km Tour führt entlang der Czarna Hancza (ein Nachbarfluss des Augustów-Kanals) und ist für jeden zu empfehlen.
Dabei ist zu beachten, dass die Route nah an der belarusischen Grenze liegt – falls das Roaming aktiviert ist und ein belarusisches Netz empfangen wird, kann das zusätzliche Kosten verursachen. Ein Smartphone braucht man hier aber nicht zwingend: In der Gegend gibt es nichts anderes als unberührte Natur. Wer möchte, kann auch eine längere, mehrtägige Tour buchen.
Kulinarisches in der Region
Podlaskie zieht nicht nur dank seiner Natur viele Besucher an, sondern ist auch ein Kulinarik-Paradies. Ein absolutes Muss ist die Tawerna Fisza Concept by Marcin Budynec (ul. Rybacka 19). Das Restaurant mit regionaler polnischer Küche bietet einen schönen Blick auf den Fluss und befindet sich direkt im Stadtzentrum. Neben einer großen Auswahl an hausgemachten Gerichten bietet es sogar polnische Weine an.
Die Augustowska Miodosytnia (ul. Tytoniowa 9) hingegen widmet sich als einer von insgesamt zwanzig Betrieben in Polen der Herstellung von Met. Der Betrieb entstand aus dem Wunsch heraus, die Bienenzucht in der Region zu fördern. Die beiden Gründer – Paweł Kotwica und Piotr Piłasiewicz – stellen traditionelle slawische Honiggetränke aus den Rohstoffen des Augustów-Walds her – unter anderem solche Spezialitäten wie Podpiwek, Zbicień oder den Rhabarber-Met Berryland Revenge, der für die Unterstützung der Ukraine gebraut wird.
Suwałki
Der Name Suwałki mag einigen von euch im Zusammenhang mit der sogenannten Suwałki-Lücke bekannt sein. Damit beschreibt man das Grenzgebiet zwischen vier Ländern – Russland (Oblast Kaliningrad), Belarus, Polen und Litauen. Die ca. 60 km lange Linie ist die einzige Grenze zwischen NATO-Ländern und Russland bzw. Belarus. Die Stadt Suwałki ist eine wichtige Sehenswürdigkeit der Suwałki-Seenplatte und hat eine große kulturelle Bedeutung für die nordpolnische Region. Im Jahr 2020 feierte Suwałki seinen 300. Geburtstag.
Ein Mekka für Blues-Fans
Ein guter Start für den Besuch ist die Chłodna-Straße im Stadtzentrum, die über diverse gastronomische Angebote verfügt. Von dort ist der nahliegende Park Konstytucji 3 Maja zu erreichen, wo man die Eiche des Friedens (Dąbek Wolności) finden kann. Sie wurde im Jahr 1923, anlässlich des Tags der Verfassung (3. Mai 1791) gepflanzt. Dür alle Blues-Fans empfiehlt sich ein Besuch der Stadt im Sommer. Hier steigt Jahr für Jahr das größte Blues-Festival Polens, das Suwałki Blues Festival.
Kunstgalerie und der berühmteste Sohn der Stadt
Suwałki hat auch jede Menge Museen zu bieten, z. B. die Kunstgalerie Stara Łaznia, ein modernes Museum in einem historischen Altbau in der Andrzej-Wajda-Straße 3. Sie trägt den Namen des bekannten polnischen Filmregisseurs, der in Suwałki geboren wurde.
Wigry
Polen ist ein Land, in dem Religion eine große Rolle spielt. Polen ist sehr katholisch geprägt, in der Suwałki-Region gibt es aber einige Dörfer, deren Einwohnern orthodoxe Altgläubige sind und die eine Kirche in Suwałki unterhalten. Das postkamaldolische Kloster in Wigry am gleichnamigen See ist eines von sieben Klöstern in der Region. Das ehemalige Haus der Kamaldulenser (ein Orden der römisch-katholischen Kirche) gehört zu den ältesten und schönsten Klöstern Polens und wurde während seiner Geschichte dreimal zerstört.
Mönche lebten ab dem 17. Jahrhundert auf dem Klostergelände, 45 von ihnen sind im Keller des Klosters beigesetzt worden. Heute kann man die ehemaligen Wohnhäuser der Mönchen mieten – mitten in der Natur.
Sękacz Wigierski
Und auch hier gibt es eine kulinarische Besonderheit – den Sękacz Wigierski. Sękacz ist ein traditionelles polnisches Gebäck, welches weit über die Grenzen der Suwałki-Seenplatte und Polens bekannt ist und in Deutschland unter dem Namen Baumkuchen bekannt ist. Hauptzutaten des Sękacz sind Butter, Eier, Zucker, Mehl und Schmand.
Der Teig wird auf einen Drehspieß langsam gegossen und einige Stunden gebacken. In Wigry backt Teresa Biziewska das Gericht. Sie bietet auch bekannte polnische Pierogi nach dem altem Rezept ihrer Großmutter an.
Wigry-Nationalpark
Über 2700 ha Wasserfläche umfasst der Nationalpark Wigry auf der Suwałki-Seenplatte. Er ist einer der jüngsten Nationalparks Polens (Eröffnung 1989) und inklusive Landfläche 14.840 ha groß. Der Bieber gilt als Symbol des Parks und lebt hier neben ca. 300 weiteren Tier- und 200 Vogelarten. „Nie tylko dla bobrów” (nicht nur für Bieber) lautet das Motto des Parks. Und auch hier gibt es neben der schönen Natur ein Stück Kultur. Das Muzeum Wigier / Stary Folwark, das über eine Dauerausstellung verfügt, die die Flora und Fauna des Parks und des Wigry-Sees darstellt ist sehr zu empfehlen.
Tykocin
Tykocin ist eine historische Stadt, in der fast jeder Stein eine Geschichte erzählen kann. Und auch die ist eng mit Religion verbunden. Die zwischen 1742 und 1750 gebaute Dreifaltigkeitskirche gilt nach wie vor als das höchste Gebäude der Stadt. Die Kirche wurde während des Zweiten Weltkrieg nicht zerstört, aber die Kirchenorgel wurde im Jahr 1920 von den Bolschewisten schwer in Mitleidenschaft gezogen. Auf dem Hauptplatz, direkt gegenüber der Dreifaltigkeitskirche, steht das Denkmal für den Gründer der Stadt und polnischen Nationalhelden Stefan Czarniecki. Nach der Sigismundsäule in Warschau ist dieses im Jahr 1763 errichtete Denkmal das zweitälteste in Polen.
Im 16. Jahrhundert entstand in Tykocin eine jüdische Gemeinde, die sich zunächst aus zehn aus Grodno stammenden Familien zusammensetzte. Tykocin wurde von der Motława, einem Nebenfluss des Narew, in einen katholischen und einen jüdischen Bereich geteilt. 1642 entstand in Tykocin eine Synagoge. Sie ist heute die zweitgrößte Synagoge Polens. Früher befand sich hier ein jüdisches Gericht. Tykocin ist auch heute nach wie vor stark von der jüdischen Kultur geprägt – Israelis besuchen die Stadt oft.
Neben der Synagoge gibt es eine gute Auswahl an polnisch-jüdischen Restaurants – darunter das älteste Restaurant der Stadt, Tejsza (ul. Kozia 2) und die Villa Regent (ul. Sokołowska 3). Auch einer der ältesten jüdischen Friedhöfe Polens befindet sich in Tykocin. Er wurde ebenfalls im 16. Jahrhundert angelegt. Ein Teil des Friedhofs wurde während des Zweiten Weltkrieges zerstört. Viele Juden aus Tykocin wurden von den Nationalsozialisten aus der Stadt deportiert und in der Nähe ermordet.
Biebrza-Nationalpark
Ca. 40 km von Tykocin entfernt liegt Biebrza – der mit einer Fläche von fast 60.000 ha größte polnische Nationalpark und das größte Moorgebiet der EU. Der gesamte Nationalpark steht unter Naturschutz. Auch der Augustów-Kanal fließt durch den Nationalpark Biebrza und ist neben anderen Flüsse für alle Paddelboottouristen befahrbar. Der gesamte Wasserweg beträgt ca. 145 Km. Der Park verfügt auch über 14 Wanderrouten sowie Fahrrad- und Reitwege. Insgesamt 280 Vogelarten und die größte Elchpopulation des Landes, ca. 1000 Gefäßpflanzenarten und zahlreiche Tiere – sie alle spiegeln die große Vielfalt der Natur wieder.
Milchmuseum
Interessant für Besucher mit Kindern ist das Milchmuseum in Grajewo, das Centrum Tradycji Mleczarstwa-Muzeum Mleka (ul. Konstytucji 3 Maja 36). Es ist das einzige Milchmuseum in Polen und wurde 2016 eröffnet. Für Spaß für Kindern und Eltern sorgen Multimedia-Objekte, die über die Milchwirtschaft informieren.
Authentische regionale polnische Küche gibt es auch hier. Nach einer Tour auf dem Biebrza-Fluss kann man die Schönheit der Natur genießen und im gemütlichen Restaurant Dolina Biebrzy (Wroceń 44) zu Mittag essen.
Bitte beachtet, dass große Gruppen (über sieben Personen) den Park nur unter Begleitung eines lizenzierten Parkführers besuchen dürfen. Das Mitführen von Hunden ist nicht gestattet. Angeln ist erlaubt.
Buchtipps Suwałki-Seenplatte
Ihr wollt die Suwałki-Seenplatte erkunden und seid auf der Suche nach einem guten Reiseführer? Dann kann ich euch den Reiseführer Polen Ostseeküste und Masuren empfehlen, der auch über die Suwałki-Seenplatte informiert, auch wenn es der Titel nicht vermuten lässt.
- Kaupat, Mirko (Autor)
Wenn ihr euch eher für alte Erzählungen über die Suwałki-Seenplatte und andere Gegenden des ehemaligen Ostpreußens interessiert, dann kann ich euch dieses Buch empfehlen.
- Dieter Grau (Autor)
Wie hat euch unser Artikel über die Suwałki-Seenplatte gefallen? Welche Orte in Polen sollen wir für euch noch besuchen? Lasst es uns wissen und schreibt uns einen Kommentar!